Unruhen in Libyen

Geflüchtete schildern Horror von Tripolis

Ausland
24.02.2011 07:47
Sie haben die lebensgefährliche Flucht aus dem Horror von Tripolis überstanden und berichten jetzt über das Erlebte. Durch in Libyen lebende Tunesier und Ägypter, die es jetzt über die Grenze in ihr Heimatland geschafft haben, gibt es nach Tagen wieder Augenzeugenberichte der Vorgänge in dem informationstechnisch vollkommen abgeriegelten Wüstenstaat. Und die Schilderungen sind erschütternd. "Ich habe ein Massaker gesehen", sagt eine Frau, die in Ben Guerdane auf der anderen Seite der Grenze zu Tunesien (Bild) Zuflucht gefunden hat. Auch von Folter ist die Rede.

Terror in Tripolis: Die Schergen Muammar al-Gadafi schießen wild in alle Richtungen, sie nehmen willkürlich Menschen auf den Straßen der Hauptstadt fest, sie vergewaltigen Frauen. Augenzeugen berichten vom Wüten der Gadafi-Anhänger in den vergangenen Tagen, von dem es so gut wie keine Bilder gibt - wer die Stadt verließ, wurde durchsucht, Fotos wurden beschlagnahmt.

"Es war ein Horrorfilm"
"Sie haben auf Oppositionsanhänger gezielt, die rennend die Flucht ergriffen. Ich habe viele Schüsse gehört, Schreie. Ich habe Schützen gesehen, die auf Gebäudedächern kauerten oder auf der Straße, auch mit Säbeln bewaffnet", schilderte die 40-jährige Tunesierin, die nicht namentlich genannt werden möchte. Bis drei Uhr morgens sei geschossen worden, sagt Sami, ein 30-jähriger Maurer, der am Dienstag aus Tripolis floh. Im Viertel Jansur hätten Mitglieder der sogenannten Revolutionskomitees mit grünen Flaggen um den Kopf auf alle Menschen geschossen, die auf der Straße waren, berichtet Youssef Benhassan. "Es war ein Horrorfilm", schaudert der 28-jährige Handwerker.

"Sie schießen überall scharf, in alle Richtungen", bestätigt Aische Chedri. Der 50-Jährige wohnte in der Nähe des Grünen Platzes im Zentrum von Tripolis. Für die hemmungslose Gewalt machen alle Befragten die Revolutionskomitees verantwortlich, eine der pseudodemokratischen Säulen von Gadafis seit 42 Jahren währender Herrschaft. Aber auch "afrikanische Söldner" schössen von den Häuserdächern im Vorort Gargaresch, sagt der Koch Ali Salah. Dort habe sich die Polizei zurückgezogen, weil die Bewohner begonnen hätten, sich zu wehren. Davon zeugten auch ausgebrannte Polizeiwachen, sagen viele Zeugen.

Mustafa Ali aus der ägyptischen Provinz Minia sagte der Nachrichtenagentur dpa, fünf seiner Verwandten, die ebenso wie er selbst in der zweitgrößten Stadt Bengasi gearbeitet hatten, seien vor einigen Tagen von libyschen Soldaten in eine Kaserne verschleppt und dort gefoltert worden. Erst als der Stützpunkt von Aufständischen gestürmt wurde, habe man sie verletzt in ein Krankenhaus gebracht. Die befreiten Folteropfer hätten berichtet, andere Ägypter seien in der Kaserne getötet worden. Mustafa Ali sagte, er selbst sei in seiner Wohnung in Bengasi, die er mit zwei anderen Ägyptern geteilt habe, von bewaffneten Afrikanern in Zivil überfallen und ausgeraubt worden.

Britische Lehrer in Todesangst
Jane Macefield ist dem Grauen im letzten Moment entkommen. "Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so sehr gefürchtet wie letzte Nacht", sagt die 52-jährige Lehrerin, nachdem sie am Mittwochabend in London gelandet war. "Ich wusste gar nicht mehr, ob ich vor Kälte oder vor Angst zittere." Macefield und ihr Mann gehören zu einer Gruppe von Lehrern einer internationalen Schule in Tripolis, die am Mittwoch ausgeflogen wurde.

"Mindestens 20 Explosionen" von Bomben oder Granaten habe sie gehört, erzählt Macefield weiter. Über der Stadt seien ständig Flugzeuge gekreist. Phil Sperinck, ebenfalls ein Lehrer aus dem Südosten Englands, wohnte in der Stadt Saraj, rund eine Stunde von Tripolis entfernt. "Letzte Nacht kam es immer näher", sagt der 51-Jährige über Schüsse und Detonationen, die er die gesamte Nacht über hören konnte. Sperinck lebte seit April in dem nordafrikanischen Land, nun wollte er wie so viele andere auch aus der Hölle fliehen. Seinen Angaben zufolge herrschen am Flughafen in Tripolis katastrophale Zustände. "Es ist furchtbar. Vor dem Gebäude sitzen Tausende Menschen herum", sagt er.

Bürger sind auf sich allein gestellt
Die Militärs sind mancherorts von der Bildfläche verschwunden. Im Zentrum etwa seien die Angehörigen der Armee, die der sehr einflussreiche Theologe Scheich Youssef al-Kardawi zur Ermordung Gadafis aufrief, nirgends zu sehen, berichtet der 25-jährige Koch Hamsa Mefthar. In Jansur dagegen werden die Soldaten beschuldigt, auf ihre Mitbürger geschossen zu haben. "Ich habe gesehen, wie sie etwa 60 Menschen festgenommen und an eine Wand gestellt haben, die Hände auf dem Kopf", sagt Benhassan. "Ich habe auch gesehen, wie Frauen von vermummten Männern vergewaltigt wurden."

Andere berichten von Einbrüchen, die die Anhänger Gadafis begingen. Zwischen Schüssen und panischen Menschen lagen Verletzte am Boden, andere liefen blutend davon, sagt Chedri. Wegen der Schießereien und des dichten Verkehrs kämen die Krankenwagen nicht durch, erzählt Benhassan.

"Sie wollen nicht, dass die Welt weiß, was hier geschieht"
An manchen Orten bildeten sich Bürgerwehren, etwa in Jansur. Dort hätten sich Libyer mit Stöcken bewaffnet, um ihr Viertel zu verteidigen, berichtet der 28-jährige Handwerker Farid Alwi. Andere bringen ihre Familien an ruhigere Orte. "Ich habe Familienväter gesehen, die mit ihren Kindern an der Hand in andere Viertel rannten", sagt Mefthar. Viele Geschäftsleute haben ihre Läden geschlossen, die verängstigten Menschen verbarrikadieren sich Augenzeugen zufolge zu Hause und leben von ihren Vorräten.

Doch alles, was die Zeugen berichten, können sie nicht anhand von Fotos oder Videos beweisen. "Als wir geflohen sind, hat man uns durchsucht und die Speicherkarten von Handys, Fotoapparaten und Kameras abgenommen", berichtet Sami. "Sie haben gesagt, dass sie nicht wollen, dass die Welt weiß, was hier geschieht."

Reporter ohne Grenzen: Nachrichten-Blackout im Land
Die libyschen Behörden haben nach Informationen der Menschenrechtsorganisation "Reporter ohne Grenzen" einen Informations-Blackout über das nordafrikanische Land verfügt. Ähnlich wie auch in Bahrain und Jemen sei die Lage sei für Journalisten zunehmend schwierig und auch bedrohlich. Internet- und Telefonleitungen würden immer wieder unterbrochen.

Wörtlich heißt es in der ROG-Erklärung: "Die Arbeit für Journalisten ist jetzt fast unmöglich; die wenigen ausländischen Korrespondenten, die schon vor der Krise in Libyen waren, stehen unter extrem scharfer Beobachtung und sind in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt." Dennoch versuchten einige Berichterstatter, auf dem Landweg über die tunesische Grenze einzureisen. Seit dem 18. Februar sei ein örtlicher Zeitungsjournalist verschwunden, der kurz zuvor mit Al-Jazeera über die Demonstrationen in der Stadt Bengasi gesprochen hatte. Der arabische TV-Sender beschuldigt den libyschen Geheimdienst, seit dem 20. Februar sein Sendesignal wie auch seine Website zu stören.

Kampfjet-Piloten steigen aus Flugzeug aus, statt zu schießen
Unterdessen wurde bekannt, dass am Mittwoch ein Kampfflugzeug abgestürzt ist, nachdem die Piloten einen Befehl zum Angriff auf Bengasi verweigert hatten, wie die libysche Zeitung "Kuryna" auf ihrer Website unter Berufung auf Militärkreise berichtete. Den Angaben zufolge verließen der Pilot und der Ko-Pilot die Maschine kurz vor dem Absturz in der Nähe der Stadt Ajdabija und sprangen mit Fallschirmen ab.

Ajdabija liegt 160 Kilometer südwestlich von Bengasi. Aus gut unterrichteten Kreisen in Tripolis hieß es, einen solchen Angriffsbefehl könne nur Oberst Muammar al-Gadafi selbst gegeben haben. Nach Angaben der Zeitung handelt es sich um eine russische Maschine vom Typ Suchoi SU-22.

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