König der Camouflage

Wer tarnt eigentlich Erlkönige – und wie geht das?

Motor
24.08.2014 13:10
Der größte Feind des Automobilentwicklers ist die Neugier der anderen. Denn sobald die Erprobung für ein neues Modell beginnt, machen die Kollegen der Konkurrenz und die Fotografen der Fachmagazine große Augen. Dass es dann trotzdem möglichst wenig zu sehen gibt, wenn man einen sogenannten "Erlkönig" vor die Linse kriegt, ist der Job von Männern wie Andreas Kubis.
(Bild: kmm)

Jetzt fehlt eigentlich nur noch die Augenbinde oder der Sack über dem Kopf: Wer Andreas Kubis an seinem Arbeitsplatz im Opel-Werk Rüsselsheim besuchen möchte, fühlt sich ein bisschen wie ein Spion beim Agentenaustausch. Erst zum Werksschutz, danach das konspirative Treffen auf einem neutralen Parkplatz zwischen zwei ehemaligen Fertigungshallen und dann über verschiedene Rampen, durch Tore und Tunnels einem Führungsfahrzeug hinterher in die Katakomben des Gebäudes K40. Selbst ins Vorzimmer von Opel-Chef Karl-Thomas Neumann kommt man wohl leichter als in die Abteilung "Karosserie Vorausentwicklung", hinter deren alarmgesicherten Stahltüren Kubis seine Werkstatt hat. Doch Neumann hat wahrscheinlich auch nicht so viel zu verbergen wie der 36-jährige technische Fachwirt. Denn Kubis ist der Tarnmeister von Opel und in seinem Atelier stehen – blitzblank und in ihrer ganzen Schönheit - die versammelten Prototypen der nächsten Jahre. Das macht den Mann zum wahrscheinlich größten Geheimniskrämer in ganz Rüsselsheim.

Tarnung gegen moderne Software
Bevor die Modelle von morgen schon heute zur sogenannten Vorserienerprobung raus ins echte Leben dürfen, schneidert Kubis ihnen ein Tarnkleid, das der Konkurrenz und den Fotografen der Fachpresse des Leben möglichst schwer machen soll. "Irgendwann kommt der Moment, an dem wir unsere Autos auch draußen in freier Wildbahn testen müssen", sagt Kubis: "Aber dabei wollen wir uns trotzdem so wenig wie möglich in die Karten schauen lassen." Das war den Entwicklern bei den Automobilherstellern schon immer wichtig, aber noch nie war die Angst vor der vorzeitigen Entdeckung und Enttarnung so groß wie heute: "Das Design ist zu einem der entscheidenden Kaufkriterien geworden, deshalb wollen wir es so lange wie möglich geheim halten", begründet Kubis den hohen Aufwand, den er in seiner geheimen Schneiderei treibt. Außerdem haben die Fotografen der Fachmagazine heute viel bessere Möglichkeiten: "Die Bildbearbeitungsprogramme sind so gut, dass aus einem unscharfen Prototypen-Foto schnell eine fotorealistische Computerretusche des neuen Autos wird."

Damit genau das nicht passiert, steht er spätestens ein Jahr vor dem Serienanlauf mit einem knappen halben Dutzend Mitarbeitern in den Katakomben von K40 und kleidet zum Beispiel den neuen Corsa komplett neu ein. Wo die Designer liebevoll jeden Falz und jede Fuge herausarbeiten und stundenlang über Lichtkanten brüten, pickt er so lange seine Tarnfolie aufs Blech, bis auch die letzte Linie kaschiert ist und das beste Bildbearbeitungsprogramm nur noch einen Pixelbrei erkennt. Und das nicht einmal, sondern viel, viel öfter: "Seit die Erprobung des neuen Corsa läuft, waren das bestimmt über 100 Prototypen", rechnet Kubis und zeigt allein auf ein Dutzend Autos, die am Ende seiner Halle auf ihre finale Ausfahrtsberechtigung warten. "Und mit jedem Fahrzeug haben wir locker ein, zwei Tage zu tun."

Tarnfolie, Hausmarke
Dabei setzt er nicht mehr wie früher auf ein Zebra-Muster, auf Karos oder Rauten. Die Folie, von der Kubis pro Erprobungsprojekt schon mal 10.000 Bogen a 60 x 40 Zentimeter bestellt, hat vielmehr ein von ihm selbst entwickeltes und in dutzenden Probeläufen getestetes Muster aus unterschiedlich hellen Karos, von denen keines größer ist als eine Spielkarte.

Schon dieses Spiel aus hell und dunkel und die vielen verschiedenen Linien lassen alle Konturen verschwimmen. Doch das ist dem Tarnmeister noch nicht genug: Dazu polstert er bestimmte Karosserieteile noch mit Gummimatten, Kunststoffleisten oder Hartplastik-Covern, die besonders charakteristische Details verbergen sollen. "Dafür laufe ich ständig mit offenen Augen durch Baumärkte und Möbelhäuser und sammele lauter Kleinteile ein, die mir bei der Tarnung helfen", erzählt der Geheimniskrämer und wedelt ganz stolz mit einer Silikonform, die er bei Ikea entdeckt hat. Während normale Leute darin die Eiswürfel für ihre Cocktails bereiten, hat Kubik diese Form bei der Tarnung des Cascada gute Dienste geleistet.

Nichts als Schwarz im Innenraum
Natürlich wird auch der Innenraum vor neugierigen Blicken geschützt. Dafür hat Kubis eigens einen Spezialstoff mit Netzstruktur aufgetrieben, der sogar die Luft der Klimaanlage durchlässt, ansonsten aber absolut blickdicht ist. Damit diese Netze auch sicher nicht verrutschen, werden sie nicht nur mit Klebeband befestigt. Ohne mit der Wimper zu zucken, greift Kubis dafür auch zum Akkuschrauber und versenkt ein Dutzend Kreuzschlitzschrauben direkt im Armaturenbrett. "Skrupel darf man in diesem Geschäft nicht haben", sagt er mit einem Schulterzucken. Viel wichtiger sind da pfiffige Ideen wie die Blickschutzfolie vor den ebenso geheimen Instrumenten, die sich Kubis aus dem Computerhandel besorgt hat. Denn was neugierige Blicke auf fremde Laptop-Monitore abhält, das hält auch den Bordcomputer des neuen Corsa geheim.

Kubis, der jeden Prototypen vom Designer, dem jeweiligen Chefingenieur und sogar vom TÜV-Prüfer abnehmen lassen muss, kaschiert aber nicht nur die charakteristischen Merkmale eines neuen Autos. Er erfindet bisweilen auch welche: Da werden fiktive Auspuffrohre unter die Karosse geschraubt oder Kühlöffnungen angedeutet, wo gar keine sind. Mal trägt ein Sparmodell eine sportliche Turbo-Hutze auf der Haube und ein anderes Mal wird aus einem konventionellen Stufenheck mit einem Plastikrucksack ein Coupé. Beim Fünftürer werden die hinteren Türen überklebt. Der Dreitürer simuliert mit dünnen schwarzen Streifen zwei zusätzliche. Und Anbauteile aus dem Vorrat des Vorgängers tun ihr übriges, um den Betrachter zu verwirren, erzählt der Tarnmeister. Manche Hersteller schrauben sogar keck die Markenzeichen der Konkurrenz an ihre Prototypen oder erfinden einfach neue Logos, um die neugierigen Beobachter in die Irre zu führen.

Ganz so weit geht Kubis nicht. Doch wer die Prototypen des aktuellen Corsa doch mal zu Gesicht bekommt, wird sich schwer tun, den Kleinwagen als Opel zu erkennen. "Einen Blitz jedenfalls sieht man weder innen noch außen."

Es geht aber auch einfacher...
Zwar hat sich Kubis in seinem Job schon so manche verrückte Tarnung einfallen lassen. Doch die beste Idee hatte offenbar einer seiner Vorgänger bei der Entwicklung des ersten Corsa Combo. Statt den kleinen Lieferwagen in ein auffälliges Streifenkostüm zu stecken und so erst recht alle Blicke auf ihn zu ziehen, haben die Tarnmeister ihn einfach mit der Werbung für eine fiktive Gärtnerei beklebt und ihn ganz offen auf Testfahrt geschickt, erzählt Kubis und kann sich das Lachen nicht verkneifen: "Den Trick hat bis heute keiner gemerkt."

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(Bild: kmm)



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