Absolutes Elend
Haiti: Kein bisschen Hoffnung in der “Stadt der Sonne”
"Bar-ba-ra! Bar-ba-ra!" Ein Jeep rumpelt über ein Asphaltband, das sich seinen Weg durch die Wellblechhütten bahnt. "Bar-ba-ra! Bar-ba-ra!" Kinder, Erwachsene - alle skandieren. Die fahrende Ambulanz hält, die Handbremse krächzt. Barbara steigt aus. "Was ist das da?", fragt sie und zeigt auf eine riesige freie Fläche von Dutzenden Hektar, auf der sich unzählige Plastikflaschen, Fetzen, Steine, Glasscherben und Autoreifen ausbreiten. Dazwischen stinkende Rinnsale und Schlammlacken, aufgebacken von der Hitze. "Das da? Das ist das Klo", bekommt sie zur Antwort.
In Cité Soleil fressen Schweine den Kot der Menschen, und, wenn es sein muss, die Menschen selbst. In Cité Soleil bringen Kinder Kinder zur Welt, unwissend stehen sie vor ihren Hütten und blinzeln in die Mittagssonne. Barbara schimpft - Frau Doktor Barbara Höfler muss schimpfen, sie muss laut sein, sie muss wachrütteln, sie muss die Leute anbrüllen. Rund um die Uhr. Sonst vergessen sie die einfachsten Dinge. Wellblech, dünn wie Papier, flattert trotz Windstille. Dahinter das Geschrei eines Neugeborenen. "Sie wissen nichts über Hygiene", seufzt "Doktor Barbara", "sie wissen nichts über Ernährung."
"So etwas wie Träume gibt es hier nicht"
Höfler will zu Lubin Wakin. Das Leben der 38-Jährigen sieht so aus: fünf Kinder, erster Mann an Cholera gestorben, zweiter davongelaufen, kein Job, wäscht manchmal Wäsche der anderen, ein paar Gourde (haitianische Währung, Anm.) Zufallseinkommen, eine schiefe Hütte, vier Mal sieben Meter groß und bereit zum Kippen, gebaut auf Unrat. Es stinkt bestialisch. Das zweitjüngste Kind, eineinhalb, taumelt nackt der Mutter hinterher. Der Blick der Frau bleibt gesenkt, auch dann wenn sie kaum hörbar spricht. Ob sie Träume habe? Träume? "Aber nein, so etwas gibt es hier nicht." Für ihre Kinder vielleicht, aber für sich selbst? "Nein, da ist nichts."
Lubin Wakin sei ein Sonderfall, sagt Höfler. "Ich mache das normalerweise nicht, aber sie bekommt von mir 2.500 Gourdes im Monat." Das sind knapp 50 Euro. Damit kann die Frau an die Grenze fahren, dort gibt es einen großen Markt. "Sie soll sich Eier oder Milch oder Schuhe oder Unterhosen kaufen. Was immer man auf dem Kopf tragen kann." Ein Kopfladen soll nämlich Lubin Wakin eine Existenz sichern. Verhungern müsse sie nicht, erklärt Höfler. "Die Menschen hier sind anders. Sie helfen einander. Nicht so wie draußen. Da kämpft jeder nur für sich."
Totales Elend statt erhofftes besseres Leben
Aus Jaqmel sei sie einst gekommen, der Stadt der Dichter und Denker, bis Diktator Francois "Papa Doc" Duvalier dem Dichten und Denken ein brutales Ende bereitete. In Port-au-Prince, der gelobten Stadt, wollte Lubin Wakin ein besseres Leben beginnen, eine Wohnung und Arbeit finden. Und endete im Slum. Ausgezehrte Hunde bellen ihre letzten Kräfte aus den dürren Körpern. Stromleitungen, wie einzelne Fäden laufen sie über die Hütten hinweg. "Zurück nach Jaqmel? Nein, das würde Lubin nie tun", sagt Höfler. Die Schande wäre einfach zu groß.
Barbara Höfler ist seit 16 Jahren in Cité Soleil. In Deutschland war sie Medizinaldirektorin beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Nordrhein. Als die Pension kam, startete sie noch einmal durch. Jetzt ist sie 75, und jedes Kind im Slum kennt ihren Namen. "Bar-ba-ra! Bar-ba-ra!" Resolut durchpflügt sie das Elendsviertel. Sie redet nicht, sie schnauzt. Aber meint es nicht so. Nicht immer. Nur Lubin Wakin tätschelt sie mütterlich den Hinterkopf, spricht leise, besonnen. Wie es gehe, ob sie etwas brauche. Stummes Kopfschütteln. In der Hütte nur Lumpen und rostige Töpfe.
Auf dem Weg zur Arbeit Zeugin eines Mordes
Draußen wird wieder gepoltert. Gestern, sagt Höfler, sei eine Mitarbeiterin mit blutverschmiertem Oberschenkel dahergekommen. "Um Gottes Willen, bist du verletzt?" Die junge Frau habe kaum das Gesicht verzogen. In dem Moment, als sie ihr Haus verlassen habe, erzählte sie, wurde gerade jemand erschossen. Das Blut, nicht ihres, sei nur auf die Hose gespritzt. Nicht der Rede wert. Cité Soleil, die "Stadt der Sonne". Und die Kinder stehen auf den kloakigen Müllhalden und sehen ihren Papierdrachen zu, wie sie hoch droben fröhlich flattern.
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