Taxi-Geschichten

Automatenschokolade: der gute Geist der Schule

Wien
27.03.2023 16:00

Wir fahren mit und hören zu. „Krone“-Reporter Robert Fröwein setzt sich auf die Taxi- oder Uber-Rückbank und spricht mit den Fahrern über ihre Erlebnisse, ihre Sorgen, ihre Ängste. Menschliche Geschichten direkt aus dem Herzen Wiens.

Wer erinnert sich nicht gerne daran zurück. Die Rechenstunde in der Hauptschule zieht sich bereits wie ein Kaugummi. Unentwegt zeigt die Lehrerin mit ihrem drohenden Stock auf eine undefinierbare Wurzelrechnung auf der grünen Tafel und fordert vergeblich die Lösung ein. Rechts darüber wandert der Sekundenzeiger auf der Wanduhr seinen langsamen Marsch und lenkt den letzten verbliebenen Funken Konzentration auf sich. Dann endlich! Das erlösende Rasseln der Pausenklingel ertönt und noch bevor der drohende Stock die Tafel verlässt, stürmen die ersten zu den Snackautomaten am Gang. Ein Schokoriegel oder überzuckerte Ambrosia retten das mathematische Malheur und man kann sich zehn Minuten später wieder etwas entspannter auf den unbequemen Holzsessel setzen. Geschichte steht an.

Snackautomaten waren zeitlebens die unbesungenen Helden des Schulalltags, doch kein Kind interessiert sich dafür, woher sie eigentlich kommen. Ich sitze im Uber Richtung Transdanubien und mein Fahrer Henry erzählt mir stolz, dass er nach knapp drei Jahren mit den geografischen Verhältnissen in Wien firm ist. Ein Taxi zu steuern stand nie in seinem Lebensplan, doch Corona zwang ihn dazu. Sechs Jahre lang arbeitete er als selbstständiger Automatenaufsteller und belieferte Schulen und Universitätsgebäude, vorwiegend im dritten Wiener Gemeindebezirk, mit dem schnellen Snack für zwischendurch. „Insgesamt waren es 22 Maschinen“, erzählt er mir nicht ohne Stolz, denn diese hohe Anzahl bearbeitete er ganz alleine, „es war viel zu tun, da bin ich oft ins Schwitzen gekommen.“

Automat ist dabei nicht gleich Automat, denn je nach Schule, Alter der Kinder und Menge der Schüler muss man sie mehr oder weniger oft bearbeiten. „Sechs der Automaten musste ich jeden einzelnen Tag auffüllen. Dort gingen die Süßigkeiten so gut weg, dass ich oft gar nicht nachgekommen bin. Aber es hat mir auch viel Geld eingebracht, weil es sich auszahlte.“ In Zahlen gegossen bedeutet das laut Henry, dass an einem Tag an einem einzigen Automaten 50 Tafeln Ritter-Sport oder 50 Packungen Manner-Schnitten herausgedrückt wurden. Fünfmal die Woche. „Natürlich gehen viele Kinder in die Schule, aber die meisten haben selbst Jause mit oder gehen in den Pausen in den Supermarkt. Dass sich das Geschäft so gut entwickelt hat, hat mich überrascht.“ Für die Automaten bezahlte er Miete, die Waren bezog er vom Großhandel. „Eine Flasche Wasser kostete mich 15 Cent, aber sie wurde um einen Euro verkauft. Es stecken aber auch genug Arbeitsstunden dahinter.“

Reich wurde Henry mit dem Befüllen von Automaten nicht, aber es war ein sicherer und krisenfester Job - bis die Pandemie ins Spiel kam. Von heute auf morgen wurden die Schulen geschlossen und die Kinder nach Hause geschickt. Henrys Umsatz ging wortwörtlich von 100 auf null zurück. „Es war wie ein Albtraum ohne Erwachen.“ Der gebürtige Ghanaer schaltete schnell und sattelte um. Er meldete sich für den Taxischein an und kämpfte sich durch die schwere Prüfung. Während er Ende 2020 bereits seine ersten Runden im Uber drehte, stellte er sein Gewerbe ruhend. Einen Jobwechsel dachte er schon vor der Pandemie an. „Die Schulen haben die Inhalte stark umgestellt. Mehr Obst und Gemüse, weniger zuckerhaltige Getränke. Das ist natürlich gut und gesund, aber für mich im Einkauf teurer, weshalb die Gewinnspanne stark zurückging.“

Nach dem Kahlschlag 2020 muss er sich darüber keine Gedanken mehr machen, auch wenn er sich hier und da noch an sein altes Leben zurücksehnt. „Ich habe den Job sehr gerne und mit großer Freude gemacht. Am Ende habe ich den harten Alltag von Kindern für kurze Zeit erleichtert und das ist doch etwas sehr Schönes.“ Henry sieht sich allgemein als adaptiven Menschen und hat kein Problem damit, betrunkene Nachtschwärmer vor der Wohnungstür auszusetzen, anstatt die Schulmilch für Zwölfjährige bereitzustellen. „Ist doch alles Dienstleistung oder nicht? Ich bin gerne in Kontakt mit Menschen und freue mich, dass ich wieder rauskomme und unterwegs bin. In einem Büro zu sitzen, wäre nichts für mich. Wer weiß, wo mich das Leben noch hinführt? Seit der Pandemie weiß ich, dass nichts sicher ist.“

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