Taxi-Geschichten

Erdbebenhorror: Ein ganzes Volk unter Schockstarre

Wien
06.03.2023 11:00

Wir fahren mit und hören zu. „Krone“-Reporter Robert Fröwein setzt sich auf die Taxi- oder Uber-Rückbank und spricht mit den Fahrern über ihre Erlebnisse, ihre Sorgen, ihre Ängste. Menschliche Geschichten direkt aus dem Herzen Wiens.

Mit einer unfassbaren Stärke von 7.8 hat ein Erdbeben am Morgen des 6. Februars Menschen an der türkisch-syrischen Grenze aus dem Schlaf gerissen. Hunderte Gebäude stürzten wie Kartenhäuser in sich zusammen, die Anzahl der Toten wird mittlerweile auf etwa 50.000 geschätzt. Das Beben gilt als eines der größten Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte und wurde von zahlreichen Nachbeben begleitet, deren Stärke auf der Richterskala noch immer zwischen 5 und 6 pendelten. „Diese Katastrophe kann ich mit Worten gar nicht beschreiben“, erzählt mir Hakan mit Tränen in den Augen. Nur wenige Tage nach dem tragischen Ereignis fährt er mich an der linken Wienzeile entlang. Es fällt ihm noch immer schwer, über das Geschehene zu sprechen.

„Ich stamme aus einem kleinen Ort in der Nähe von Ankara. Meine Familie und Freunde waren nicht unmittelbar davon betroffen, aber das ist mir kein Trost.“ Das Erdbeben hat ein Loch in die Herzen einer ganzen Nation gerissen, soviel ist klar. Trauer und Ärger halten sich bei Hakan die Waage. Die Wut hat er auf die türkische Politik und ihre Verfehlungen. „Die Gebäude waren nie erdbebensicher, auch nicht die neuen“, redet er sich mit erhobener Stimme in Rage, „in den Medien erzählen die Politiker davon, dass man in den letzten 20 Jahren viel stabiler gebaut hätte und das Erdbeben schlicht zu stark war. Das stimmt aber nicht und wenn man die Gebäudestrukturen im Nachhinein genau prüfen würde, dann müssten alle sehen, dass hier schlampig gebaut wurde.“

Von der Politik und den Entscheidungsträgern in seiner alten Heimat ist Hakan schon lange enttäuscht. Die furchtbare Katastrophe und die darauffolgenden Ausflüchte der Staatenlenker sind nur ein weiterer Grund für seine felsenfest eingemeißelte Überzeugung, auf keinen Fall dorthin zurückzukehren. „Wenn man einmal die Ruhe und den Frieden in Österreich gewohnt ist und man merkt, wie wenig Korruption es im Vergleich zur Türkei gibt, dann will man nicht mehr zurück.“ Hakan dreht nervös an der Lüftung seines Autos und verpasst aufgrund der kurzen Unkonzentriertheit fast eine rote Ampel. Augenblicklich drückt er auf die Bremse, uns beiden schneidet der Gurt in die Brust und eine blonde Frau mit Kinderwagen überquert sichtlich sauer den Schutzweg vor uns.

„Tut mir leid“, entschuldigt er sich sofort, „ich bin momentan nicht immer voll auf der Höhe. Es hat beim Beben ungefähr zehn große Städte wirklich schlimm erwischt. Für mich ist das einfach unvorstellbar.“ Mittlerweile ist Hakan wieder voll auf die Straße konzentriert, aber seine Gedanken springen unentwegt hin und her. Das Leid der Menschen mag geografisch fern sein, doch es breitet sich intensiv in ihm aus. Familie, Freunde und Bekannte aus der türkischen Community in Wien haben sich noch enger miteinander vernetzt und stünden in ständigem Austausch. „Hast du dieses eine Bild auf Twitter gesehen“, fragt er mich mit fahlem Gesicht, „wo der Vater neben den Trümmern eines Hauses sitzt und die Hand seiner Tochter hält, die dort im Schutt eingeklemmt ist? Niemand kann helfen. Man kann nichts dagegen tun. Überhaupt nichts. Außer hoffen und weitersuchen.“

Dass so viele Stunden nach dem Ereignis noch immer Überlebende aus den Trümmern geholt werden, hält Hakan für ein Wunder. „Ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, dass man überlebt, mit jeder Stunde extrem sinkt. Ich finde es beeindruckend, wie die Menschen sich in der Krise helfen.“ Auf meine Nachfrage, wie er die rassistische Entgleisung des niederösterreichischen FPÖ-Politikers Udo Landbauer zur Türkei gesehen hat, schüttelt Hakan nur den Kopf. „Darüber will ich gar nicht reden“, sagt er sanft, aber sehr bestimmt, „ich konzentriere mich lieber auf das Positive. Zum Beispiel darauf, dass so viele Menschen spenden und direkt helfen. So viele Menschen haben einen guten Charakter. Darauf konzentriere ich mich.“

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