Ausstellung in Graz

Als das Leben auf dem Land aus den Fugen geriet

Steiermark
05.05.2022 16:00

Vor 100 Jahren fand das geregelte Leben auf dem Dorf ein jähes Ende. Eine Ausstellung im Grazer Museum für Geschichte zeigt die unsicheren Gefühle der steirischen Bevölkerung in dieser „zerrissenen Zeit“.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben", heißt es im Volksmund. Gemeint ist damit eine höchst subjektive Sicht auf die Vergangenheit. Auch auf die Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Es geht da meist um gewonnene Schlachten und Territorien. Die Gefühle der betroffenen Menschen bleiben außen vor. Und ganz selten geht es um die Ängste und Hoffnungen der ländlichen Bevölkerung, deren Welt vor etwa 100 Jahren total aus den Fugen geriet.

Bis zu 90 Prozent der Menschen lebten auf dem Land
Man muss sich daran erinnern, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts je nach Region noch 60 bis 90 Prozent der Menschen auf dem Land lebten und dort auch - meist in der Landwirtschaft - tätig waren. Keiner konnte sich damals vorstellen, dass sein Leben durch den großen Krieg innerhalb weniger Jahre auf den Kopf gestellt werden würde.

So er den Krieg überhaupt überlebte, denn gut 90 Prozent der Gefallenen sind der ländlichen Bevölkerung zuzuordnen. Damit aber genug der trockenen Zahlen.

Ausstellung über Gefühle
In seiner aktuellen Ausstellung “In einer zerrissenen Zeit - das Dorf vor 100 Jahren" versucht das Museum für Geschichte in Graz in enger Zusammenarbeit mit dem Historiker Harald Heppner, emeritierter Professor an der Uni Graz, und seinem Team die Gefühle der Menschen zu ergründen, deren Leben so aus der Bahn geworfen wurde. Die Veränderungen in den ländlichen Regionen waren im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts nämlich immens. Dafür war natürlich der Krieg verantwortlich, aber schon zuvor lockte die Industrialisierung immer mehr Menschen in die Städte. Und nach dem Krieg stand man vor den Trümmern eines großen Reiches und musste sich mit neuen Grenzen abfinden.

Das brachte natürlich jede Menge Unsicherheit mit sich. Das Leben verlief nicht mehr in geordneten Bahnen, die Menschen wussten nicht, was die Zukunft bringen würde, sie verloren das Vertrauen in Obrigkeiten.

Pfarrchroniken, Briefe und Fotos
Wie aber macht man die Gefühle jener Zweifelnden sichtbar? Es sind Auszüge aus Pfarrchroniken, Tagebüchern und Briefen von der Front, die Heppner und Bettina Habsburg-Lothringen vom Museum für Geschichte in der Ausstellung zeigen. Und es sind Einzelschicksale, die sie herausgreifen und stellvertretend für viele stehen lassen. Dazu kommen Fotos, Postkarten, Zeitungsausschnitte. Sie erzählen Geschichten von der großen Bedeutung der Kirche, die nach und nach schwindet, von Dorffesten, wo es eigentlich nicht viel zu feiern gab, von Enteignungen, um das Heer ernähren zu können, von vielen unverständlichen Vorschriften und schließlich vom Tod der Söhne und Ehemänner, von Kriegsgefangenen und Flüchtlingen.

Und auch die Zeit nach dem Krieg hat im ländlichen Raum deutliche Spuren hinterlassen. Es gab plötzlich Grenzen, die durch den Acker oder Weinberg führten, es gab neue politische Strömungen wie den Sozialismus und nicht zuletzt den Verfall alter moralischer Werte in einer Zeit der Not, in der sich selbst jeder der Nächste war.

Bis 31. Oktober
Durch die persönliche Erzählweise werden die vergangenen Zeiten in dieser Ausstellung lebendig, und man kann sich erstaunlich gut in die Zeit zurückversetzen - noch dazu, weil einem vieles beängstigend vertraut vorkommt.Sie ist bis 31. Oktober im Museum für Geschichte in Graz zu sehen.

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