Laufender Urmeter

Der VW Golf TDI im Test

Motor
21.04.2009 13:41
Der VW Golf hat etwas mit dem ORF gemeinsam: Seit Jahr und Tag steht er an der Spitze jeder Quoten- respektive Verkaufszählung. Das ist bisher irgendwie ehernes Gesetz. Doch es gibt einen gravierenden Unterschied: Beim Golf weiß man, warum das so ist; er macht seine Sache einfach richtig gut und vor allem richtig. Der neue, der Sechser-Golf, ist wieder nichts Geringeres als der Urmeter im Automobilbau.
(Bild: kmm)

Man verzeihe mir (in Wolfsburg) den Vergleich mit Österreichs öffentlich-rechtlichem Rundfunk, aber wenn ORF-Generaldirektor Dr. Alexander Wrabetz in die Kamera sagt „krone.tv, das musst du gesehen haben“, hat er nicht nur Recht, sondern führt mich auf direktem Weg zu „Den VW Golf musst du gefahren haben“, jedenfalls wenn man sich ein Auto zulegen möchte, das grob in dieser Klasse liegt. Ob man dann tatsächlich einen Golf kauft, ist ein anderes Thema, aber er ist in jedem Fall eine gute Referenz.

Der Urmeter: urpraktisch, ursparsam, urangenehm
Die Plattform des neuen entspricht der des alten Golf, die Optik wurde jedoch geschärft, bis hin zu einem Scirocco-ähnlichen Gesicht. Vor allem ist der neue billiger in der Herstellung als früher (kann dem Kunden wurscht sein), macht aber dennoch einen noch besseren Eindruck (bis auf das Zuschlaggeräusch der hinteren Türen). Der Testwagen: 110-PS-TDI, Ausstattung Trendline, gut 22.000 Euro. Kein Aufreger, eher ein Wolfsburger im Schafspelz, vielleicht eine Idee zu bieder. Aber er passt wie ein gut geschnittener Handschuh. Kein blendender Schnickschnack, keine Karbon- oder Edeloberflächen, kein blitzendes Chromgeplänkel, sondern tägliche Freude über Kleinigkeiten, an die andere Entwickler offenbar nicht mal denken.

Man braucht nicht viele Finger, um die Autos abzuzählen, in denen eine 1,5-Liter-Flasche Wasser in die Türablage passt. Im Golf kein Problem. Da sind die Türgriffe wie selbstverständlich so angebracht, dass genügend Platz entsteht (also aufsteigend), und ganz nebenbei sind dadurch auch noch die Fensterheber-Knöpfe perfekt zu bedienen. Das Handschuhfach ist auch für den Fahrer ideal zu erreichen und recht groß. Die Papiere (also die dicke Mappe mit Betriebsanleitung usw.) stecken oben in einem eigenen Fach, darunter bringe ich noch richtig viel unter, etwa meine sehr große CD-Mappe plus Stadtatlas (hab mich erst kürzlich in der Handschuh-Grotte eines schnittigen Fiat Bravo verirrt, daher fällt mir das besonders auf). Unter den Beifahrersitz passt problemlos eine riesige Handtasche.

Das Feine ist entscheidend
Man merkt vielleicht schon, ich bin durch Kleinigkeiten zu begeistern – aber ich denke zu Recht: Die Unterschiede zwischen modernen Autos sind nicht riesig, sondern fein. Und da gehört auch ein angenehmes Blinkergeräusch dazu, das mich nach einem stressigen Arbeitstag nicht zu einem Schreikrampf nötigt. Oder eine Autotür, die mir nicht drauffällt, wenn ich abends das Auto bergauf parke und aussteige (das schafft nicht einmal Mercedes!).

Der Kofferraum ist mit 350 bis 1.305 Litern sicher nicht Klassenbester und es entsteht auch keine ganz ebene Ladefläche, wenn man hinten umklappt; dafür kann ich mit meinen 1,88 Metern Gardemaß sogar hinter mir auf der Rückbank sitzen, ohne Platzangst zu bekommen. Das kombinierte Ablage-/Getränkefach zwischen den Vordersitzen mit dem Flaschenöffner ist noch immer eine gute Idee. Die Temperaturregelung der Heizung/Lüftung stellt auch Kurzsichtige nicht vor Rätsel, die Temperatur leuchtet im Display auf, wenn man den (auch ansonsten brav anzeigenden ) Drehknopf bewegt. Einzig der Lautstärkeregler des angenehm klingenden Bordradios ist zu grob gerastert.

Charakterherz mit urguten Trinksitten
Endlich hat sich Pumpe-Düse aus den gölfischen Dieseln verabschiedet, wobei der 2-Liter-TDI mit den 110 PS für einen Common-Railer relativ charakterstark brummt. Er ist kein Leisetreter, aber einer, der Spaß macht. Nicht zuletzt beim Betrachten der Verbrauchsanzeige. Ich bewege mich zwischen 4,5 und 6,8 l/100 km, wobei ich die 6,8 auf der 3-km-Kurzstreckenfahrt mit Vollgas zum Bahnhof erreicht habe. Es handelt sich hier um einen Nichttanker; ich glaube man kann noch so viel Gas geben, man kommt fast 1.000 km weit.

Urgut gegen Radarstrafen
In 10,7 Sekunden ist Tempo 100 erreicht. Tacho 100 geht deutlich schneller, denn da fährt der Golf erst 92 km/h. Der Tacho des Testwagens eilt so weit voraus, dass man schon mutwillig zu schnell fahren muss, um von den Rittern der Straße aufgehalten zu werden. Erst bei Tacho 109 sind es echte 100. Das Fahrwerk macht alles mit, ein guter Kompromiss aktiven Komforts. Der Golf liegt gut in Kurven, lässt sich sogar sportlich fahren, weil zum einen die Lenkung gut rückmeldet, zum anderen das ESP ungewöhnlich unauffällig ist. Man kann sogar mit quietschenden Reifen um die Ecke brechen, ohne dass es eingreift! Dabei fällt dann aber auf, dass die bequemen Sitze mit Seitenhalt geizen. Der Motor schiebt überall an, wo man es braucht, sogar von recht weit unten. Nur das Anfahren will geübt sein. Ohne eine Extraportion Gas oder eine besonders sanfte Kupplung lässt er sich gerne abwürgen.

Urausbaufähig
Der Golf hat eine Aufpreisliste, die man sonst nur bei teuren Premiumautos findet. Wer Premiumunderstatement fahren möchte, für den gibt es etwa ein adaptives Fahrwerk, ein großartiges Touchscreen-Navi, Doppelkupplungsgetriebe, Abbiegelicht, 2-Zonen-Klima, Leder, Parklenkassistent, Rückfahrkamera usw. So kann man natürlich problemlos weit über 30.000 Euro für den 110-PS-TDI ausgeben, ist dann aber urluxuriös unterwegs.

Fazit:
Der Golf ist keiner, der Emotionen weckt, er ist der solide Partner, der das Gefühl von Sicherheit gibt. Andererseits – das ist ja eigentlich auch eine Emotion (schade, dass VW da nicht noch eins drauflegt und mehr als zwei Jahre Garantie gibt, nicht nur ein Konkurrent wirft fünf in die Waagschale). Dennoch ist er nicht einfach nur nüchtern, sondern sogar gefälliger als früher, bei aller Konzentration auf das Wesentliche. Der Kaufpreis-Aufschlag im Vergleich zur Konkurrenz kann sich später beim Verkauf des Autos als Durchlaufposten erweisen, denn der Wertverlust ist erfahrungsgemäß geringer als anderswo. Nicht zuletzt, weil sich der Golf von Modell zu Modell nicht neu erfindet, sondern fein verbessert, wie es sich für einen Urmeter gehört. Das ist auch dem echten Urmeter immer wieder widerfahren… (siehe Infobox)

Und der ORF? Dem würde die Wirtschaftlichkeit des Golf gut stehen.

Stephan Schätzl

Warum?

  • Er ist einfach der Urmeter.
  • Weil er mit aufpreispflichtigen Extras zu einem relativ preiswerten Premiumauto wird.

Warum nicht?

  • Ein Golf war noch nie was für Individualisten.

Oder vielleicht …

  • … einen Konkurrenten mit 5 Jahren Garantie (z. B. Fiat)?
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(Bild: kmm)



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