Bald am Lido Sounds

Die Libertines haben ihre innere Mitte gefunden

Musik
08.04.2024 09:00

Jahrelang versanken vor allem die beiden Libertines-Köpfe Pete Doherty und Carl Barât im Sumpf voller Zwistigkeiten, Drogen und Skandale. Spätestens mit der Pandemie haben sie offenbar ihre innere Mitte gefunden – und veröffentlichen mit „All Quiet On Eastern Esplanade“ das erste Album nach neun Jahren. Ein überraschender Volltreffer.

(Bild: kmm)

Was haben wir nicht alle gelitten, gezittert und uns aber auch gleichzeitig gefreut, mit unseren Lieblingshelden Pete (mittlerweile Peter) Doherty und Carl Barât. Die Zuschreibung „Toxic Twins“ würde für die beiden Vollkontaktbriten viel zu kurz gehen. Drogenexzesse, durchsoffene Nächte, Zwistigkeiten, Streits, Nahtode. In letzter Sekunde abgesagte Konzerte, grottenschlechte Performances (etwa in der Wiener Stadthalle 2016) oder unberechenbares Bühnenverhalten. Vor allem Doherty ließ jahrelang weder ein Fettnäpfchen, noch einen Whisky oder eine Heroinnadel aus. Wer hätte gedacht, dass ihn ausgerechnet die Pandemie, eine Zeit, in der ein nicht unwesentlicher Prozentsatz der Gesellschaft am Durchdrehen war, langfristig erden und die Libertines zu neuen, regelrecht lichten Höhen führen sollte?

Käseplatte statt früher Sarg
Zurückgezogen mit Frau und Kind in der französischen Pampa genoss Doherty seine neue Sub-Existenz als Bohemien. Anstatt sich mit allen Pulvern und Pillen der Welt vollzupumpen, taten es plötzlich edler Rotwein, üppige Käseplatten und die raue Küstenluft. Körperlich hat sich Peter in dieser Zeit verdreifacht, doch frei nach dem österreichischen Motto „rund und g’sund“ befindet sich der mittlerweile 45 Jahre in der Blüte seines Lebens und nicht etwa auf dem nächstgelegenen Friedhof des britischen Margate, wo man ihn – nicht zu Unrecht - schon mehrere Male hinfantasierte. Anstatt sich mit durchzechten Nächten die Lebensenergie zu rauben, schrieb Doherty auch fleißig Songs, ging mit den nicht ganz so fleißigen Libertines auf eine Indoor-Tour und überzeugte dabei etwa im Herbst 2022 im Wiener Gasometer – mit einer Show voll großartiger Musik und Situationskomik, ganz ohne Aggressionen und Fremdschämfaktor.

Diese neu zur Schau gestellte Friedlich- und Gemütlichkeit nutzte die Band glücklicherweise, um abseits des Dolce Vita im mittleren Alter noch einmal die innere Kreativität anzuzapfen. Ganze neun Jahre sind seit dem gutklassigen letzten Libertines-Album „Anthems For Doomed Youth“ ins Land gezogen, andererseits lagen aber auch ganze elf zwischen ebenjenem Album und dessen Vorgänger „The Libertines“. Schon im September 2022, also kurz bevor man zur starken 20-Jahre-Jubiläumstour für das ungeschlagene Debüt „Up The Bracket“ aufbrach, trafen sich Doherty und Barât in Jamaika, um abseits ihrer beiden Mitmusiker erste Ideen einzuspielen. Das nun fertige und mehrfach kurzfristig verschobene Werk spielte man vor gut einem Jahr innerhalb von vier Wochen im Studio des bandeigenen Hotels in Margate ein. Laut Doherty in einer „Phase des raren Friedens“ zwischen den exzentrischen Bandmitgliedern.

In vielseitiger Hochform
Neben all des löblichen Abrückens diskutabler Verhaltensweisen können die Herren im gesetzteren Alter aber auch nicht verhehlen, dass das ständige Suchen nach dem nächsten Zwist zu dauerhaften Belastungen führen kann. Die seit vergangenem Herbst veröffentlichten Singles ließen die Vorfreude auf neuen Libertines-Stoff jedenfalls in lichte Höhen schweben. Die Indie-Dancefloor-Party in „Run Run Run“ (nur zufällig namensgleich mit dem Klassiker von Velvet Underground und Nico) entführte zurück in die noch unbeschwerten Zeiten Mitte der 2000er-Jahre, „Night Of The Hunter“ ist eine mit Latin- und Western-Atmosphäre versetzte Ballade Dohertys und das epische „Shiver“ ist mit seiner memorablen Melodielinie und der fast geisterhaften Atmosphäre auch auf Libertines-Langstreckensicht eines der besten und auch friedlichsten Lieder, das die vier milchgesichtigen Raubeine in ihrer spannenden Karriere geschrieben haben.

Die Besinnung aufs Teamwork und ihre Heimat ist bereits im Titel vorgegeben. „All Quiet On The Eastern Esplanade“ beruft sich einerseits auf die neugewonnene Ruhe innerhalb der Band, andererseits auf das Margate-Hotel (an der Eastern Esplanade) und auch auf den Roman-Klassiker „All Quiet On The Western Front“. Diverse Film- und Musikverweise finden sich bei den Libertines auch im aktuellen Songmaterial wieder. Etwa das an Robert Mitchum angelehnte „Night Of The Hunter“ oder auch „Baron’s Claw“, dessen düsterer Klang bewusst an die britischen B-Movies der 60er-Jahre erinnern soll. Vor allem der offen zur Schau gestellt Eklektizismus steht den sonst eher gleichförmigen Libertines gut zu Gesicht. Es gibt flotte Nostalgie-Songs, wühlende Balladen, instrumentale Experimente und über allem stehend ein deutlich hörbares Gemeinschaftsgefühl, das in der momentanen Verfassung darauf hoffen lässt, dass die Band sich im dritten Karrierefrühling noch einmal in die Champions League des britischen Indie-Genres spielen kann.

Jahrelang gekiefelt
Neben der persönlichen Vergangenheitsbeschau und immer wieder in Songtexten eingeflochtenen Reflexionen findet auch die politische Weltbühne verstärkt Platz im Kanon der Libertines. „I Have A Friend“ schrieb Barât in den Albion Rooms von Margate über den Krieg in der Ukraine und das fließende „Merry Old England“ ist ein Doherty-Stück aus einer besonderen Sichtweise: Was denken sich ankommende Flüchtlinge über dieses aktuelle England, das an allen Ecken und Enden bröckelt? Zum Schluss bleibt die Hoffnung, dass jeder Einzelne trotz allem seine Heimat findet und diese Heimat sich dadurch zum nächsten Schritt in eine Zukunft entwickelt. Viele Jahre gekiefelt hat Doherty auch am Schlusspunkt „Songs They Never Play On The Radio“, den für ihn wichtigsten Song seiner Karriere. „All Quiet On The Eastern Esplanade“ ist das beste Libertines-Werk seit dem ungeschlagenen Debüt „Up The Bracket“ und eine interessante Mischung aus spielerischer Leichtigkeit und reifer Schwere. Möge der Frieden halten und Frankreich nicht der edle Käsevorrat ausgehen.

Live beim Lido Sounds
Mit ihrem neuen Album und den besten Songs aus der Vergangenheit kommen die Libertines am 30. Juni als Abschluss zum Lido Sounds nach Linz. Unter www.oeticket.com gibt es noch Karten für den Top-Konzerttag, an dem u.a. auch Sam Smith, die Idles, The Streets und die Hives auftreten werden. Vielleicht folgt später im Jahr auch noch eine Hallentour …

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