Wiener Stadthalle

Nick Cave: Nach der Trauer kommt die Hoffnung

Musik
02.11.2017 12:41

Wer sonst als Nick Cave und seine Bad Seeds vermögen das Unmögliche möglich zu machen - vor etwa 12.000 Fans in der Wiener Stadthalle erschufen die Vollblutmusiker zu Allerheiligen eine musikalische Messe in intimer Atmosphäre. Der 60-Jährige Frontmann bot seinen Jüngern an einem Abend der Außergewöhnlichkeit Trost, Freude und Hoffnung

(Bild: kmm)

Die besten Geschichten schreibt eben doch das Leben. Wie sonst ist es zu erklären, dass der zuletzt von Schicksalen nur so gebeutelte Nick Cave ausgerechnet zu Allerheiligen in Wien zur Messe lädt? Seine derzeitige Welttournee ist der Abschluss einer Trauer-Trilogie, die mit der atemberaubenden Dokumentation "One More Time With Feeling" begann, sich mit dem Studioalbum "Skeleton Tree" fortsetzte und nun in den größten Hallen der ausgewählten Tourstädte ausläuft. Der Zyklus begann vor etwas mehr als zwei Jahren, als der 15-jährige Arthur, einer seiner Zwillingssöhne, im vermeintlichen Drogenrausch tödlich von einer Klippe stürzte. Die anfängliche Verzweiflung ob der schicksalshaften Machtlosigkeit wich schnell einem Kampfgeist, der ihn zu kreativen Höchstleistungen führte.

Schwermut mit Witz
So zeigt sich Cave vor gut 12.000 Fans in einer fast prall gefüllten Wiener Stadthalle gleich zu Beginn von seiner verletzlichen Seite. Mit "Anthrocene", "Jesus Alone" und "Magneto" wirft er drei der schwermütigen neuen Songs ins Rennen, die ihm über den tragischen Verlust hinweghalfen. Sanfte Pianoklänge, paralysierende Stroboskop-Lichteffekte und eine markant düstere Grundstimmung begleiten den Konzertauftakt mit viel Melancholie, aber ohne allzu üppige Schwermut. Schon zu Beginn geht der stets im eleganten Sakko gekleidete Frontmann mit dem Publikum auf Tuchfühlung, lässt sich eine Rose schenken und verhindert geschickt, die bleierne Schwere der Musik mit allzu dunklen Gesten zu verstärken. Dass Cave längst wieder Lebensmut geschöpft hat, merkt man spätestens beim "Higgs Boson Blues", wo er zur Textzeile "can you feel my heartbeat?" den Fans nahe kommt und amüsant sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz beklagt. Der 60-jährige und immer noch wundersam juvenile Australier nimmt mit solch kleinen Schmähs der Trauer den Wind aus den Segeln.

Cave präsentiert sich nahbar und sendet die Botschaft des Miteinanders durch die Halle. Spätestens mit dem intensiven "Tupelo" haben sich Publikum, Künstler und Band gefunden - die restlichen zwei Drittel der akustischen Messe werden zu einem Triumphzug der Sonderklasse. Dabei sind es natürlich die "Hits" des charismatischen Sängers, die für nachhaltige Begeisterung zu sorgen wissen. Das mit einem märchenhaften Lichtspiel versehene "Jubilee Street", das vom Piano getragene Intensiv-Stück "The Ship Song" oder die aus Tausenden Kehlen mitgesungene Ballade "Into My Arms" durchziehen die Stadthalle mit einem Gefühl der Besonderheit. Cave läuft wie wildgeworden von einem Bühnenrand zum anderen, sucht immer wieder den physischen Kontakt zu seinen geliebten Fans und wird von den sechsköpfigen Bad Seeds mit beneidenswerter Brillanz unterstützt. Vor allem Bandleader Warren Ellis hat sich mit seiner intensiven Darbietung längst selbst zum zweiten Hauptdarsteller befördert und fasziniert mit Ganzkörpereinsatz an Gitarre, Geige und Mandoline.

Ungewollter Mainstream
Cave gelingt es, die Songs aus den unterschiedlichen Karrierephasen perfekt auszutarieren. Die intensiven Nummern von "Skeleton Tree" streut er geschickt zwischen alten Klassikern ein, um der Negativität nie zu viel Raum zu geben. Die poetischen Songtexte vermischen sich mit dissonant-lauten Instrumentalabfahrten, die der Band nicht nur einen genreunabhängigen Sonderstatus garantieren, sondern sie trotz mainstreamuntauglicher Musik in den Mainstream beförderten. Cave und die Bad Seeds gehören zu den wenigen Exemplaren, die auch ohne Formatradio-Airplay die größte Halle des Landes zu füllen wissen. Selbst eingängige Songs wie "Red Right Hand" oder "The Mercy Seat" fordern die Konzentration - davon lässt sich auch Bundeskanzler Christian Kern samt Gattin mitreißen.

Nach zwei intensiven, fast schon hypnotischen Stunden begibt sich Cave im Zugabenteil zum "Weeping Song" ins Publikum, bevor er selbiges für die Abschlussnummern "Stagger Lee" und "Push The Sky Away" zu Dutzenden auf die Bühne holt. Wie er seine Jünger dort dirigiert, hat etwas von einer musikalischen Sekte, die ihrem Rudelsführer blind und ergeben auf Gedeih und Verderb folgt. Es könnte wahrlich Schlimmeres geben, als sich den poetisch geformten Botschaften des Australiers auszuliefern. Am Ende bleiben die Hoffnung und der Trost, dass Cave nach einer verdienten Zeit des Trauerns mit Lebensfreude und neuer Kraft gen Zukunft wandelt. Ja, es ist genug Platz für die seelische Schmerzbewältigung, aber das Leben geht weiter. Wer, wenn nicht Onkel Nick könnte uns diese Botschaft aus leidvoller Eigenerfahrung glaubwürdig vermitteln. Das Drehbuch des Lebens ist noch lange nicht zu Ende geschrieben - schon gar nicht an Allerheiligen.

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