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Warum Israel nicht das gesamte Judentum ist

Community
29.07.2025 11:50

In der Welt der Online-Foren taucht oft eine schädliche Behauptung auf: Israel sei austauschbar mit dem Judentum und jeder jüdischen Person auf dem Planeten. Diese weitreichende Verallgemeinerung ist sowohl unzutreffend als auch gefährlich, denn sie verwischt die Grenzen zwischen einem Nationalstaat und einer vielfältigen Weltreligion. Im Folgenden wollen wir diese falsche Aussage widerlegen und die deutlichen Unterschiede aufdecken, die die jüdische Diaspora wirklich definieren. 

Israel, Gaza, Iran. In den Kommentarspalten entsprechender Artikel kommt man an solchen und ähnlichen Behauptungen kaum vorbei:

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Alle Juden sind doch eh Israelis!

 

Immer wieder tauchen Pauschalisierungen wie diese oder „Israel spricht für die Juden weltweit“ auf. Mal provokant oder gar böswillig gemeint, mal aus Unwissen. Doch genau solche Zuschreibungen sind nicht nur unzutreffend, sondern auch problematisch, da sie komplexe Realitäten zu einfachen, oft irreführenden Narrativen verkürzen. Im Folgenden nehmen wir diese Behauptungen genauer unter die Lupe und beleuchten sie aus unterschiedlichen Perspektiven.

Israels Politik ist umstritten
Die politischen Gewässer sind für Benjamin Netanjahu durchaus stürmisch in seinem Land. Die Wogen gehen in der Knesset regelmäßig hoch: Zwischen dem Premierminister und seiner rechts-religiösen Regierung einerseits und einer breiten Opposition von der politischen Mitte bis zur linken Zivilgesellschaft auf der anderen Seite. Aber nun machen auch Koalitionsparteien Netanjahu das Regieren schwer: Die ultraorthodoxe VTJ verlässt laut Medienberichten die Regierung, was die Mehrheitsverhältnisse der Regierung ins Wanken bringt. Manche Beobachter sind der Meinung, Netanjahu hätte das Ruder aber bereits kurz vor dem Gaza-Krieg fast verloren. Hunderttausende Israelis protestierten heftigst gegen eine weit umstrittene Justizreform; der Boden unter Benjamin Netanjahus Macht bröckelte. Historiker Yuval Noah Harari etwa wandte sich in einer Rede vor 150.000 Demonstranten gegen den Abbau der Demokratie. Dann kam der schreckliche Überfall der Hamas am 7. Oktober und die Bevölkerung stellte sich als Einheit hinter die Verteidigung des Landes. Doch schon bald mehrten sich kritische Stimmen am Kurs der Regierung – auch mitten im Krieg. Netanjahu wurde vorgeworfen, eigene Interessen über die nationale Sicherheit zu stellen und Warnungen von Geheimdienst und Militär ignoriert zu haben.

(Bild: Associated Press)

Vor dem überraschenden Angriff auf den Iran forderten laut Umfragen 87 Prozent der Israelis, dass Netanjahu Verantwortung für die Tragödie des 7. Oktober übernimmt; knapp drei Viertel wollten seinen Rücktritt, darunter auch einige seiner rechten Wähler. Allgemein sehen viele Israelis in Netanjahus Gaza-Politik mehr politisches als nationales Interesse. Aktuelle Umfragen zeichnen ein komplexes Bild: Während 70 Prozent der Israelis der Regierung Netanjahu insgesamt misstrauen, bewerten rund 80 Prozent die Militärstrategie gegen den Iran als positiv. Tatsächlich stieg die Unterstützung für Netanjahus Likud-Partei nach dem Angriff wieder leicht an. Mehr als drei Viertel der Israelis befürworteten die Schläge gegen iranische Nuklearanlagen, und etwa 60 Prozent der Bevölkerung sprachen sich für einen Regimesturz im Iran aus.

Dennoch bleibt Netanjahus Rückhalt fragil. Der im April verfasste Brief von 350 israelischen Schriftstellern und Kulturschaffenden mit der Forderung eines Endes des Gaza-Krieges hat an seiner Wirkkraft kaum verloren. Der Weckruf prangert die „unverhältnismäßige Gewalt“ gegen Zivilisten in Gaza an und wirft dem Premier vor, um des eigenen Machterhalts willen den Konflikt mutwillig zu verlängern. So auch der Journalist Akiva Eldar, der Netanjahu eine Strategie attestiert, außenpolitisch zu eskalieren, um innenpolitisch zu stabilisieren. Oppositionspolitiker wie Gilad Kariv und Betroffene, etwa Angehörige von Geiseln aus dem Gaza-Krieg, kritisieren Netanjahus Umgang mit innenpolitischen und sozialen Problemen auf das Schärfste. Sie werfen ihm vor, die politische und persönliche Agenda über das Wohl der Bevölkerung zu stellen.

Insgesamt zeigt sich, dass die israelische Regierungspolitik weiterhin heftig umstritten ist und keineswegs alle Israelis repräsentiert. Zwar führte der Iran-Angriff kurzfristig zu einer Stärkung von Netanjahus Position, doch die grundsätzliche Skepsis gegenüber seiner Amtsführung bleibt groß, und prominente israelische Stimmen im In- und Ausland äußern weiterhin deutliche Kritik.

Das israelische Parlament: die Knesset
Das israelische Parlament: die Knesset(Bild: APA/AFP/GIL COHEN-MAGEN)

Zionismus ist nicht gleich Judentum
Nicht alle Juden sind Zionisten und nicht alle Zionisten sind Juden. Tatsächlich entstand der Zionismus Ende des 19. Jahrhunderts aus Österreich heraus. Als säkulare Nationalbewegung und gegen Antisemitismus von Theodor Herzl gedacht, entwickelte er aber bald auch religiöse Strömungen. Diese haben heute starken politischen Einfluss, dennoch teilen keineswegs alle Juden diese Ansichten. Viele sehen diese religiöse Abwandlung sogar kritisch. Es gibt auch explizit antizionistische Juden wie Teile der ultraorthodoxen Haredim oder linke jüdische Gruppen. Übrigens: Die größte Gruppe religiöser Zionisten bildet keine jüdische Gemeinschaft, sondern ausgerechnet fundamentale Evangelisten in den USA, die Israel aus theologischen Gründen unterstützen. Zionismus ist also eher ein politisches Konzept mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen und nicht zwingend mit religiösen Überzeugungen verknüpft.

Israels Bevölkerung
Israels Bevölkerung widerlegt die Gleichsetzung „Israel = die Juden“. Zwar hat Israel als einziger Staat eine jüdische Bevölkerungsmehrheit, doch diese bildet weniger als die Hälfte der weltweit rund 17 Millionen Juden ab. Rund 21 % der israelischen Staatsbürger sind arabische Palästinenser (Muslime und Christen). Zudem unterscheiden sich jüdische Israelis erheblich in Kultur, Religion und politischen Ansichten: von mehrheitlich säkularen Tel Avivern bis hin zu ultraorthodoxen Gemeinschaften, von europäischen Ashkenasim bis zu den orientalischen Sephardim und Mizrachim. Zwischen diesen Gruppen bestehen tiefe Gräben etwa bezüglich Wehrpflicht, Heiratsrecht oder Siedlungspolitik. Israels Gesellschaft ist daher politisch, ethnisch und religiös divers und gar gespalten – eine einheitliche Meinung „der Juden“ existiert nicht. Wer behauptet, Israel handle „im Namen aller Juden“, verkennt diese komplexe Vielfalt.

Israels Bevölkerung im Detail:

  • Jüdische Bevölkerung: ca. 73-74 % (etwa 7,4 Mio.)
    und somit der einzige Staat mit einer jüdischen Mehrheit, davon:

    Hiloni (Säkular): Zwischen 43 % und 50 %
    Masorti (Traditional): Mit etwa 25-33 %
    Dati (Orthodox): Rund 12-16 %
    Haredi (Ultra‑Orthodox): Etwa 9-14 %

    Innerhalb dieser Gruppen gibt es erhebliche Unterschiede bei Religionsausübung, Kultur und politischen Ansichten.
  • Arabische Minderheit: ca. 21 % (rund 2,1 Mio.) – dazu zählen Muslime, Christen und Drusen besitzen vollen Staatsbürgerstatus, aber leben häufig in eigenen Gemeinden.
  • „Andere“: etwa 5-6 % (ca. 0,55 Mio.) – Migranten, Konvertiten, Angehörige ohne religiöse Klassifizierung

Jüdische Diaspora weltweit: Solidarität, Sorgen und Protest
Viele Juden fühlen sich Israel verbunden, vertreten jedoch unterschiedliche Ansichten zur Regierungspolitik. Nach dem Hamas-Angriff vom Oktober 2023 gab es breite Solidarität mit Israel, gleichzeitig aber auch wachsende Sorge über zivile Opfer im Gaza-Streifen. Vor allem jüngere jüdische Menschen und progressive Gruppen protestierten offen, etwa durch Großdemonstrationen in den USA, und forderten einen sofortigen Waffenstillstand. Diese neue jüdische Protestbewegung stößt auf gemischte Reaktionen innerhalb der Gemeinden: Während konservative Organisationen wie die ADL jüdische Kritiker teils verurteilen, sprechen prominente Persönlichkeiten wie Bernie Sanders von „unmoralischen“ Angriffen auf Gaza. Ähnliche Konflikte zeigen sich auch in Großbritannien, wo jüdische Führungspersönlichkeiten öffentlich Israels Vorgehen kritisierten und dadurch interne Spannungen verschärften. Klar ist: Die jüdische Diaspora ist vielfältig und kontrovers. Kritik an Israels Politik ist nicht automatisch antisemitisch; zugleich darf Kritik an der israelischen Regierung nicht dazu führen, Juden generell dafür verantwortlich zu machen.

(Bild: ASSOCIATED PRESS)

Judentum in Österreich
Während die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG), vertreten durch Präsident Oskar Deutsch und Generalsekretär Benjamin Nägele, klar hinter Israels Vorgehen in Gaza steht und jegliche Kritik scharf zurückweist, sehen viele jüdische Einzelpersonen die Lage differenzierter. Heftig reagierte die IKG auch auf den ehemaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer, der Israels Kriegspolitik kritisierte und vor wachsendem Antisemitismus warnte: Nägele warf Fischer vor, durch seine Kritik an Israels Politik antisemitische Narrative zu bedienen. Zugleich erleben Juden in Österreich tatsächlich verstärkt antisemitische Vorfälle seit Beginn des Gaza-Kriegs, was die Sensibilität erhöht. Kritische Stimmen innerhalb der jüdischen Community, besonders jüngere und intellektuelle Mitglieder, äußern sich meist mit vorgehaltener Hand, wohl um interne Konflikte zu vermeiden. Öffentlich dominiert daher eine Haltung der uneingeschränkten Solidarität mit Israel, auch wenn intern durchaus differenzierte Meinungen bestehen dürften.

Conclusio zur Behauptung
Israel ist nicht das Judentum. Der Staat ist demokratisch und vielfältig. Mit jüdischen und nichtjüdischen Bürgern, die unterschiedliche Meinungen vertreten und auch weltweit sind Jüdinnen und Juden keine homogene Gruppe. Wer Israel kritisiert, sollte Regierungshandeln benennen – nicht „die Juden“ pauschal. Die Gleichsetzung von Israel mit dem Judentum ist ein Trugschluss und verhindert echte Debatten. Diese entstehen durch gehaltvolle Regierungskritik und müssen gestattet sein. Israel ist ein Staat mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit, aber der Staat Israel ist nicht die Juden. 

Wenn Sie diese Behauptung unter dem einen oder anderen Israel-Artikel lesen, wissen Sie nun, was Sache ist, und können sie mit den oben angeführten Fakten argumentativ widerlegen. Scheuen Sie also nicht den Diskurs, sondern tragen Sie dazu bei, dass Falschbehauptungen in unseren Foren die Stirn geboten wird.

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