Liebesleben als Tabu

„Wir reden immer noch zu wenig über Sex!“

Gesünder leben
16.06.2023 09:58

Auch mit dem Arzt. Denn die Sexualfunktion ist ein wichtiger Teil unseres Lebens, hängt eng mit Krankheiten, Therapieentscheidungen und Allgemeingesundheit zusammen. Eine Expertin plädiert für fächerübergreifende Sexualmedizin und Kostenübernahme durch die Krankenkassen.

Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder, Universitätsklinik für Innere Medizin II, Klinische Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel im Wiener AKH, im Interview:

Gesünder Leben“: Sie legen als Internistin Ihren Schwerpunkt auf Sexualmedizin. Wie kam es dazu?
Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder: Ich habe im Zuge meiner ärztlichen Tätigkeit bemerkt, dass dies ein Thema ist, dass sich durch alle medizinischen Bereiche zieht, dafür aber kaum oder viel zu selten bei Anamnese und Behandlungsstrategien angesprochen wird. Laut WHO ist sexuelle Gesundheit ein wichtiger Teil zur Gesunderhaltung und Vorsorge. Mit Sexualstörungen geht ein starker Leidensdruck einher. Es handelt sich aber keineswegs nur um ein psychisches Problem - 80% aller Sexualfunktionsstörungen haben internistischen Hintergrund.

So begann ich eine Ausbildung in Sexualmedizin 2010 bei Dr. Elia Bragagna in Wien, machte Zusatzausbildungen in Oxford, Mailand und Amsterdam, fing im AKH an der MedUni Wien an, das Thema in Forschung, Lehre und natürlich allen voran der Patientenversorgung zu implementieren. 2014 wurde dann die „Österreichische Gesellschaft zur Förderung der Sexualmedizin und der Sexuellen Gesundheit“ ÖGFSSG, gegründet. Als Präsidentin der Fachgesellschaft organisiere ich im Team einen jährlichen Kongress, Fortbildung, Vorträge usw. mit.

Karin Podolak im Interview mit Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder. (Bild: Bubu Dujmic)
Karin Podolak im Interview mit Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder.

Als Patient hört man davon eigentlich wenig. Wie wichtig ist das Thema in der medizinischen Praxis?
Es wird immer wichtiger! Wien ist durch Sigmund Freud eigentlich die Wiege der Sexualmedizin, daher verwundert es, dass dieser wesentliche Teil unserer Gesundheit so lange - und immer noch nicht ausreichend - unbeachtet blieb. Die Erhaltung der Sexualität muss bei vielen Gesundheitsproblemen beachtet und mitbehandelt werden.

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Die Erhaltung der Sexualfunktion ist medizinisch notwendig und nicht im Lifestyle angesiedelt. Daher sollte es aus meiner Sicht eigentlich keine reine Privatleistung mehr sein.

Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder, Fachärztin für Innere Medizin

Organische Ursachen bei Mann und Frau können etwa Bluthochdruck, Diabetes, Gefäßkrankheiten (Atherosklerose), Hormonstörungen, Schmerzleiden uvm. sein. Dem sollte man auf den Grund gehen und dementsprechend behandeln. Oft löst sich damit auch die Sexualfunktionsstörung.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Bei Krebserkrankungen etwa ist es essenziell für Patienten, die Sexualität zu erhalten und die Möglichkeiten dafür auch aufzuzeigen. Denn Operationen, Strahlentherapie, Chemotherapie wirken sich natürlich darauf negativ aus, doch das ließe sich durchaus verhindern bzw. verbessern. Sexualität betrifft nicht ein Organ allein, sondern den ganzen Körper. Dies verändert sich nicht nur durch akute Krankheiten, sondern auch im Laufe des Lebens aufgrund von Hormonschwankungen, Demenzentwicklung, neurologischer Leiden oder eben Krebsgeschehen.

Auch Medikamente nehmen Einfluss. Die Patienten haben ein Recht darauf, dass ihre Bedürfnisse ernst genommen werden! Außerdem bringt erfüllende Sexualität eine bessere Lebensqualität und Lebensfreude mit sich, was den Genesungsprozess und das Allgemeinbefinden unterstützen. Dabei muss man fächerübergreifend denken. Es sind neben Gynäkologen und Urologen ja auch Chirurgen, Endokrinologen, Internisten, Physiotherapeuten, Psychologen uvm. an Diagnose und Therapie beteiligt.

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Erfüllende Sexualität bringt eine bessere Lebensqualität und Lebensfreude mit sich, was den Genesungsprozess und das Allgemeinbefinden unterstützt.

Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder, Fachärztin für Innere Medizin

Gibt es dazu auch wissenschaftliche Grundlagen?
Selbstverständlich. Neu wären, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, Erkenntnisse über Atrophien im Bereich der Vagina durch Strahlentherapie bei Gebärmutterhalskrebs im Zuge der EMBRACE Studien (Anm.: internationale Kohortenstudien zur radioonkologischen Behandlung von Zervixkarzinomen). Hierbei bildet sich die Vaginalschleimhaut teilweise zurück, was zu Schmerzen und anderen Beschwerden führt.

Gegenmaßnahmen sind so einfach wie wirkungsvoll: Durch bessere Bestrahlungsplanung und den Einsatz von Dilatatoren kann man das verhindern! Eigentlich ist es State-of-the-Art, diese Patientinnen diesbezüglich aufzuklären, aber das passiert immer noch zu selten, obwohl es zur Nachsorge und sogenannten Survivor-Medizin gehört. Warum? Es zeigt der Patientin, dass es auch ein Leben nach dem Krebs gibt und man einiges dafür tun kann. Denn es wurden wirklich große medizinische Fortschritte gemacht, etwa durch die Immuntherapie, was die Zahl der Überlebenden erfreulicherweise erhöht.

Stimmt es, dass eine Erektionsstörung ein Anzeichen für Herzleiden sein kann?
Tatsächlich haben betroffene Männer ein etwa 70 Prozent erhöhtes Risiko in den nächsten 2-3 Jahren nach dem ersten Auftreten einer ED (erektile Dysfunktion) einen Herzinfarkt zu bekommen! Denn liegt Atherosklerose, „Arterienverkalkung“, vor, entstehen durch Ablagerung in den Gefäßwänden Verengungen, welche zu Verschlüssen führen können.

Männer mit Erektionsstörungen haben ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines Herzinfarkts. (Bild: dragonstock/stock.adobe.com)
Männer mit Erektionsstörungen haben ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines Herzinfarkts.

Da die Penisarterie ein kleineres Gefäß darstellt, zeigt sich dies eben dort als Durchblutungsstörung einige Zeit früher als bei den größeren Herzkranzgefäßen. Daher gilt mangelnde Erektionsfähigkeit als Frühwarnzeichen für die Herzgesundheit. Auch bei Diabetes kommt es übrigens zu Gefäßverengung. Das ist zwar im gesamten Körper der Fall, beeinträchtigt das Sexleben aber ebenfalls. Daher wäre es so wichtig, die Sexualität im normalen Untersuchungsalltag, etwa beim Hausarzt oder Internisten, mit abzufragen.

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Tatsächlich haben betroffene Männer ein etwa 70% erhöhtes Risiko in den nächsten 2-3 Jahren nach dem ersten Auftreten einer erektile Dysfunktion einen Herzinfarkt zu bekommen!

Univ.-Prof. Dr. Michaela Bayerle-Eder, Fachärztin für Innere Medizin

Warum ist es immer noch so schwierig, sexuelle Themen in Therapien zu integrieren?
Die Erhaltung der Sexualität und Sexualfunktion wird meist als „Lifestyle-Therapie“ angesehen und nicht als medizinische Intervention. Daher handelt es sich auch nicht um Kassenleistungen. Das halte ich für einen großen Fehler. Etwa beim Prostatakarzinom. Da macht eine Beratung der Männer schon zu Beginn einer Behandlung Sinn, denn Probleme mit Inkontinenz, Erektionsstörungen usw. sind häufig.

Der Einsatz moderner, schonenderer Therapiemethoden wird aber unter Umständen von den Kassen nicht bezahlt und so fehlt diese Information oft oder wird nur kurz erwähnt ohne genaue Erklärung. Hier müsste endlich den modernen Erkenntnissen folgend nachgebessert werden.

Lange Zeit wurden sexuelle Probleme vor allem in das Reich der Psyche verbannt. Das stimmt aber aus heutiger Sicht nicht mehr, oder?
Als klassisches Beispiel hierfür wäre Vaginismus (Anm.: unwillkürliche und reflexartige Verkrampfung der Beckenmuskulatur) zu nennen. Das betrifft zwischen 5% und 17% vor allem junge Frauen und erzeugt bisweilen große Schmerzen. Es kann oft nicht einmal eine Untersuchung erfolgen. Patientinnen hören oft, sie seien überempfindlich oder sollen zum Psychologen gehen.

Aber es handelt sich durchaus auch um ein organisches Problem, das sich sogar messen lässt, etwa der stark erhöhte Muskeltonus, kann nach Operation oder Infektion auftreten. Daraus ergeben sich zahlreiche Beschwerden, auch unerfüllter Kinderwunsch gehört dazu. Es liegt ein komplexes Krankheitsbild vor, für dessen Behandlung ein interdisziplinäres Team notwendig ist. Dann sind die Heilungschancen sehr gut, etwa durch eine Kombination aus Physiotherapie, Psychoedukation, Biofeedback usw. Aber das bewegt sich eben alles im Privatbereich, sogar das Vorgespräch.

Was bei Sexualstörungen bei Männern gut funktioniert, hat als „Viagra für Frauen“ keinen Erfolg. Woraus erklärt sich das?
Frauen werden durch so ein Medikament nicht entsprechend erregt und wenn, nur körperlich. Das bedeutet bei ihnen aber nicht unbedingt, im Gegensatz zu Männern, dass sie damit auch automatisch Lust auf Sex haben. Das ist zumindest das gängigste Erklärungsmodell. Bei Leidensdruck geht es zunächst darum, die Auslöser für Libidoverlust zu finden.

Sexualstörungen beim Mann lassen sich mittels Medikamente meist effektiv behandeln. (Bild: Graphicroyalty/stock.adobe.com)
Sexualstörungen beim Mann lassen sich mittels Medikamente meist effektiv behandeln.

Die können etwa in den Hormonen liegen (Wechseljahre, Schwangerschaft), an der Einnahme bestimmter Medikamente (Pille, Antidepressiva), Schmerzproblematik, um nur einige zu nennen. Können organische Ursachen oder Krankheiten ausgeschlossen werden, ist eine Therapie nur dann angezeigt, wenn die Frauen unter ihrem Libidoverlust leiden. Ansonsten besteht kein Handlungsbedarf. Ist alles in Ordnung und es handelt sich einfach nur um fehlende Lust, haben wir in Europa keine Medikation.

Heißt das, anderswo auf der Welt gibt es solche Arzneien schon?
Ja, in den USA ist ein solches Medikament auf dem Markt, es wird aber von Patientinnen nicht gut angenommen.

Was tun, wenn die sexuelle Anziehung in einer Partnerschaft mit der Zeit nachlässt?
Liebe bzw. Verliebtsein geht mit erhöhter Ausschüttung von Dopamin (Anm.: ein körpereigener Botenstoff, der erregend auf das zentrale Nervensystem wirkt), dem sogenannten Glückshormon, einher, das lässt aber bekanntlich nach. Man kann es allerdings wieder in Gang bringen, etwa indem man gemeinsam aufregende Dinge erlebt.

Eine Bergtour, eine Motorradfahrt, eine Abenteuerreise. Aber schon mit einer einfachen Übung lässt sich ein „Glückshormon-Cocktail“ herstellen, wie aus der Forschung bekannt: Ein paar Minuten vor dem Spiegel breit lächeln, Mundwinkeln nach oben ziehen. Das signalisiert dem Gehirn: Glückshormone ausschütten! Das funktioniert tatsächlich, probieren Sie es einfach einmal aus!

Wann macht eine Sexualtherapie Sinn?
Hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten und Paartherapien aus dem Bereich der Psychotherapie und der Psychologie mit dem Ziel, wieder ein erfülltes Sexualleben zu erlangen und sich gegenseitig wieder neu kennenzulernen. Wir raten zu Sexualtherapie bzw. kognitive Verhaltenstherapie. Entweder allein oder als Paar.

Fachkongress in Wien

  • Sexualmedizin Interdisziplinär
  • 22. - 23. September 2023, AKH Wien, MedUni Wien
  • Motto: „Schönheit ist Hau(p)tsache“ mit Schwerpunkten auf Psoriasis, Sex & Liebe mit Gesunder Lebensweise und Mikronährstoffen
  • Es wird auch wieder einen interessanten Publikumsvortrag geben.
  • Weitere Informationen finden Sie hier.

Ich sage Patienten immer wieder, dass sie einen Platz für ihre Sexualität in ihrem Leben finden müssen und dem trotz Terminstress, Mehrfachbelastung, hohe Arbeitsanforderung, Freizeitprogramm usw. genügend Zeit widmen sollten. Spontaner Sex passiert in unserem modernen Leben eher selten, besser man plant ihn ein, als zu verzichten. Schon sich darauf vorzubereiten, macht ja Spaß und hebt die Stimmung.

In diesem Interview war viel von fächerübergreifendem, interdisziplinärem Zugang zur Thematik die Rede. Das wird ja auch immer am jährlichen Sexualmedizinkongress im AKH, den Sie mitbegründet haben, beleuchtet. Welchen Schwerpunkt gibt es heuer?
Wir haben herausgefunden, dass das Hautbild einen großen Einfluss auf die Sexualität hat. Bei Untersuchungen an AGS-Patientinnen (Anm.: Adrenogenitales Syndrom, ein vererbter Enzymmangel, der u.a. zu übermäßiger Bildung männlicher Hormone bei Frauen führt) mit Akne stellte sich dieser Zusammenhang heraus.

Die Hauterscheinungen wurden als stärkere Belastung empfunden als andere Veränderungen, die mit der Krankheit in Verbindungen stehen. Daher stellen wir heuer das Thema „Haut“ bzw. Dermatologie in den Mittelpunkt.

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(Bild: KMM)



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