Lage immer kritischer

„Nehmen von Hungernden, um Verhungernde zu retten“

Ausland
05.05.2022 06:00

Der Krieg in der Ukraine hat dramatische Auswirkungen auf die globale Versorgungslage an Lebensmitteln. Der Berliner Direktor des Welternährungsprogramms, Martin Frick, erklärt in der „Krone“ die Umstände.

„Krone“: Herr Dr. Frick, wie dramatisch ist die Welthungerlage?
Dr. Martin Frick:
Wir haben eine grobe Zahl: knapp eine Milliarde Menschen, die nicht genug zum Essen haben. Da reden wir von relativ harmlosen Dingen bis hin zur klassischen Hungersnot. Akut vom Hunger bedroht waren 2019 rund 150 Millionen Menschen. Im Jänner dieses Jahres waren wir bei 276 Millionen.

Jetzt schätzen wir, dass es 323 Millionen werden könnten. Alarmierend ist, dass wir bis 2015 einen Rückgang verzeichnen konnten. Die letzten zwei Jahre mit Pandemie, Konflikten, Klimaauswirkungen und jetzt dem Ukraine-Krieg haben den Trend dramatisch umgedreht.

Die Ukraine gehört zu den größten Getreideexporteuren der Welt. Der Krieg beeinflusst auch die globale Nahrungsmittelversorgung.
Die Zahl derer, die unsere Hilfe brauchen, nimmt rasant zu, und wir haben höhere Kosten, um diese Hilfe zu liefern, und müssen einfach den Teig dünner ausrollen. Gleichzeitig sind besonders arme Länder zum großen Teil von Nahrungsmittelimporten aus der Schwarzmeerregion abhängig. Zusammen mit den enormen Preissteigerungen lässt das die Ärmsten in Hunger abrutschen.

Ist es dann nicht obszön, wenn Elon Musk zum Spaß 44 Milliarden für ein Social-Media-Unternehmen zahlen will, aber sechs Milliarden Dollar Hilfe für das UNO-Welternährungsprogramm an Bedingungen knüpft?
Unser Chef, David Beasley, hat sich auf Twitter einen Austausch mit Elon Musk geliefert. Da kommt immer das Vorurteil, dass die UNO ineffizient und teuer ist. Von innovativen Menschen wie Elon Musk wollen wir ja nicht nur Geld, sondern Input in Sachen Innovation.

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Bei Elon Musk reden wir von zwei Prozent seines Vermögens, das reichen würde, 44 Millionen Menschen vor einer Hungersnot zu bewahren.

Martin Frick

Beispiel: Früher haben wir Nahrungsmittel geliefert. Jetzt statten wir Menschen mit Geldkarten aus, damit sie auf dem lokalen Markt einkaufen können. In den zwei Jahren der Pandemie wurden die Reichsten noch reicher. In meinen Augen wäre das schon eine Frage der Solidarität, wenn dieser Reichtum auch mit den Leuten geteilt würde, die weniger glücklich sind.

Bei Elon Musk reden wir von zwei Prozent seines Vermögens, das reichen würde, 44 Millionen Menschen vor einer Hungersnot zu bewahren. Wenn man das umrechnet auf das Gehalt eines Arbeiters, ist das so, als wenn man um zehn Euro bitten würde.

Zur Person Dr. Martin Frick

Dr. Martin Frick ist seit November 2021 der Direktor des Büros des Welternährungsprogramms für Deutschland, Österreich und Liechtenstein. Zuvor war er Sondergesandter des UN-Generalsekretärs für den „Food Systems Summit 2021“ und leitender Direktor des Sekretariats, das sich um die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens kümmert.

Der türkische Politologe Galip Dalay sagte kürzlich bezüglich der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs: „Während es im Westen um Lebensstandardeinbußen geht, könnte es anderswo um Leben und Tod gehen.“
Das ist tatsächlich richtig. Die durchschnittliche österreichische Familie gibt zwölf Prozent des Einkommens für Lebensmittel aus. In vielen Entwicklungsländern sind wir bei 70 bis 80 Prozent. Und da reden wir nur von Grundnahrungsmitteln wie Brot. Wir evaluieren die Lage permanent. Da gibt es fünf Phasen. Wie eine Ampel von Grün bis Dunkelrot.

Es gibt Menschen, die sind schon im roten Bereich. Da verzichtet man auf eine Mahlzeit am Tag, dann auf eine zweite und bald ganz auf das Essen, damit die Kinder etwas haben. Das ist nicht nur ein humanitäres Problem, sondern auch für die Stabilität dieser Länder.

Kann man den teilweisen Ausfall der ukrainischen Getreideernte kompensieren?
Im Libanon zum Beispiel konnten wir ausfallende Lieferungen kurzfristig durch Importe aus der Türkei ersetzen. Die richtigen Auswirkungen werden wir erst in diesem Sommer und Herbst mitbekommen. Wir schätzen, dass in der Ukraine bis zur Hälfte des landwirtschaftlichen Landes gar nicht genutzt wird. Dazu liegen im Hafen von Odessa oder auf festsitzenden Schiffen im Schwarzen Meer knapp 4,5 Millionen Tonnen Weizen.

Es ist ganz klar, dass Putin Hunger als Waffe einsetzt?
Der Verdacht drängt sich auf. Es wurden landwirtschaftliche Anlagen zerstört. Der Westen hat ein riesiges Sanktionierungspaket gegen Russland abgesegnet. Nicht sanktioniert sind aber Lebensmittel-Exporte. Aus gutem Grund. Russland ist ein noch größerer Exporteur als die Ukraine. Getreide aus der Schwarzmeerregion ist zentral für die globale Nahrungsmittelversorgung.

Das heißt, Russland ist von Hunger durch Krieg weniger betroffen?
Bisher kaum. Aber auch Russland hat bis zu 25 Prozent der Anbauflächen diese Saison wahrscheinlich nicht bestellt, unter anderem weil sie von Pestiziden aus dem Westen abhängig sind, die durch die Sanktionen nicht geliefert werden.

Wo, denken Sie, wird für die Menschen die Schmerzgrenze beim Lebensmittelkauf sein?
Wir haben bei vielen billigen Lebensmitteln Kosten, die wir nicht sehen. Klima, Biodiversität, Tierwohl, aber auch bei der menschlichen Gesundheit. Fast eine Milliarde Menschen bekommt nicht genug qualitativ hochwertige Nahrung, fast eine Milliarde Menschen ist extrem übergewichtig. Wir müssen unser Ernährungssystem umbauen.

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Man hat früher vom Sonntagsbraten gesprochen. Und das hat auch seinen guten Grund gehabt.

Martin Frick

Dabei kommt kein radikaler Veganismus heraus, sondern eher eine traditionelle, regionale Art und Weise der Produktion, wie wir sie vor Jahrzehnten hatten. Man hat früher vom Sonntagsbraten gesprochen, das hat auch seinen Grund gehabt. Wir essen das Zehn-, 20-, 30-Fache von dem, was unsere Eltern, und das 100-Fache von dem, was unsere Großeltern an Fleisch gegessen haben.

Kann man sich für Lebensmittel eine Preisobergrenze vorstellen?
Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Manche Produzenten sagen, dass sie für dieses Geld nicht produzieren. Oder man subventioniert, aber das können sich nicht alle Länder auf Dauer leisten. Es gibt drei Ursachen für Hunger: Konflikt, Klima und Corona. Da stößt man an seine Grenzen. Weizen war zuletzt 80 Prozent teurer als vor einem Jahr, Tendenz steigend.

Und dann kommt in Ostafrika eine Dürre dazu.
Am Horn von Afrika sind 15 Millionen Menschen akut vom Hunger bedroht. Dort ist bald drei Jahre kein Regen gefallen. Wir hatten im Dezember im Jemen für acht Millionen Menschen die Rationen schon halbieren müssen. Wir nehmen buchstäblich von den Hungernden, um die Verhungernden zu retten.

Kann man Entwicklungsländer aus der Importabhängigkeit befreien?
Nicht überall und nicht sofort. Unmittelbar müssen wir Augenmerk darauf legen, dass es leistbar bleibt. Mittelfristig ist es wichtig, dass wir in vielen Ländern diese Reduktion auf drei Getreidearten, Reis, Mais und Weizen, aufbrechen. Wir hatten vor 50 Jahren ein größeres Spektrum von dem, was die Menschen gegessen haben. Wir müssen wieder viel mehr in den Ländern des globalen Südens mit dem arbeiten, was traditionell angebaut worden ist.

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