Missverstanden

TV On The Radio: Talentierter Anti-Mainstream

Musik
08.09.2015 14:37
TV On The Radio sorgen seit 14 Jahren und fünf Studioalben für eine der spannendsten und kreativsten Songs, die man im weitläufigen Indie- und Alternative-Bereich finden kann. Warum der große Durchbruch - vor allem in Europa - nicht und nicht gelingen will und worauf es bei der Musik wirklich ankommt, darüber haben wir mit Multiinstrumentalist Kyp Malone gesprochen.
(Bild: kmm)

Eindringlich, betörend, atmosphärisch – noch bevor sich die Abenddunkelheit ihren Weg durch die niederösterreichische Landeshauptstadt St. Pölten bahnt, sorgen TV On The Radio auf der Green Stage für eines der intensivsten Konzerterlebnisse des diesjährigen Frequency Festivals. Nur – die Konkurrenz ist zu groß. Auf der Hauptbühne sorgt zuerst Deutschlands Top-DJ Fritz Kalkbrenner für die nötige Dosis psychedelische Dance-Beats, welche die Feierwütigen am dritten Festivaltag zum Munterbleiben brauchen und kurz darauf US-Rap-Superstar Kendrick Lamar für den mit Abstand aufregendsten Slot des ganzen Wochenendes. Den New Yorker Avantgarde-Rockern bleibt im deutschsprachigen Raum einmal mehr nur die undankbare Rolle der "Liebhaber-Beschaller".

Kreatives Allerlei
Kein faires Schicksal für eine der spannendsten Bands dieses Jahrtausends. Ihre Mischung aus künstlerisch angehauchtem Indie-Rock mit Alternative-Versatzstücken, poppigen Melodien, Hip-Hop-Vibes und einer fein nuancierten Dosis Elektronik ist in der Szene einzigartig. Dazu kommt nach das untrügliche Gespür für radiotaugliche Pop-Songs und die markante Stimme von Tunde Adebimpe, der schließlich nicht umsonst auch mit einem künstlerischen Großkaliber wie Faith-No-More-Frontmann Mike Patton für kreative Ergüsse sorgt. Auf mittlerweile fünf Alben haben TV On The Radio ihren Sound stets erweitert, verfeinert und neu umgekrempelt, sich niemals in eingezäunten Sicherheitsbereichen wiederholt, sondern immer den Drang zum Neuen verspürt. "Seeds" nennt sich der aktuelle, im November 2014 erschienene Output, mit dem das Quartett sich locker zu Mainstream-tauglichen Künstlern entwickeln hätte können, wäre der Mainstream nur auf die Kraft ihrer Songs gestoßen.

Das Einreißen jeglicher Stilgrenzen und die fast schon zur Trance verleitenden Liveshows tun das Ihre, um die einst stolzen Brooklyner, die sich mittlerweile in ganz Amerika verstreut haben, auf der musikalischen Landkarte zu festigen. Im Interview sitzt uns Kyp Malone, Bassist der Band, gegenüber. Sichtlich müde von den Festival-Tourstrapazen muss er sich anfangs erst noch erkundigen, ob er jetzt in Zürich oder Wien sei. St. Pölten ist halt nicht New York. Ihm Unlust am Gespräch zu attestieren, wäre unfair. Auch Rockstars haben ein Recht auf Ruhe und Entspannungszeit. Die Emotionen, die teilt Malone ohnehin lieber auf der Bühne mit und trotz offensichtlichem Wunsch nach einer Mütze voller Schlaf, stellt er sich mit größtmöglicher Konzentration der verbalen Interaktion. "Ich habe keinen Favoriten unter unseren Alben", beginnt Malone lächelnd den Ist-Zustand zu beschreiben, "aber wenn du ,Seeds' als unser bislang bestes Werk siehst, wäre es bestimmt kontraproduktiv, deine Meinung nicht zu teilen."

Kampf gegen die Implosion
Von den vier fixen Bandmitgliedern können zumindest drei als Egozentriker bezeichnet werden. Sound-Mastermind Dave Sitek etwa ist kein Freund übertriebener menschlicher Kommunikation, diverse Nebenspielwiesen der einzelnen Mitglieder machen das Fokussieren auf TV On The Radio nicht immer einfach. "Wir leben schon nach den grundlegenden Traditionen des Musizierens", erläutert Malone, "wir folgen unseren Gedanken und improvisieren immer wieder. Aber es muss heute nicht mehr so sein, dass man als Band gemeinsam abhängt. Ich folge lieber meinen eigenen Intentionen". Die Egos hintanzustellen sei nicht immer einfach, betont der langbärtige Musiker, doch eine über die Band hinausreichende, übertriebene Nähe würde folgerichtig wohl auch zur zerstörerischen Implosion führen.

Früher wurden TV On The Radio für ihre Songs von Brooklyn oder zumindest New York inspiriert. Heute wohnen Adebimpe und Sitek im mondänen Los Angeles, Malone hat es ins ländlichere Pennsylvania verschlagen. Die gemeinsame, urbane Hauptinspirationsquelle versiegte schlagartig. "Unsere Verbindung zu Brooklyn hatte historische Gründe, die es heute nicht mehr gibt", blickt Malone wehmütig zurück, "die Inspirationsquellen von damals sind in dieser Stadt nicht mehr zu finden. Würden wir daran festhalten, würde es die Band längst nicht mehr geben." Heute ist ihm sogar die Erde zu wenig. "Ich würde ja gerne mit einem Space Shuttle in ein urbanes Gebiet auf einem anderen Planeten einer fernen Galaxie geschossen werden", lacht Malone, bevor ihm wieder Müdigkeit überkommt, "die Geschäftigkeit einer richtigen Stadt vermisse ich manchmal schon sehr."

Der Tod als Chance
Neue Songs wie "Happy Idiot", "Trouble" oder "Love Stained" gehören mitunter zum besten Material, das die Band jemals geschrieben hat. Ein unerwartetes Manifest der kompositorischen Stärke, denn nachdem Bassist Gerard Smith im April 2011 an Lungenkrebs verstarb, fiel die Combo nur kurz in Schockstarre und nutzte vielmehr den so wichtigen "jetzt erst recht"-Moment. "Wir haben vor diesem tragischen Ereignis eigentlich viel öfter darüber nachgedacht, alles hinzuschmeißen", erklärt Malone mit trockenem Galgenhumor, "aber natürlich hat das alles verändert. Der Tod eines so nahestehenden Menschen lässt dich das Leben bewusster genießen, du bist nahbarer und siehst das Ende klarer". Malone reflektiert die schwere Zeit philosophisch: "So ein Ereignis lässt dich hinterfragen, wie du die Zeit deines Lebens nutzt. Dein Verantwortungsbewusstsein steigt, du wirst erwachsener und reifer und bemerkst schnell und klar, welche Rolle in diesem wirtschaftlichen Rad du hast."

Doch die Realität zeigt es immer wieder – kaum eine erfolgreiche Bandstory, ohne Drama und Tragödie. Und "Seeds" wurde somit nicht zur vielfältigsten, sondern auch emotionalsten Platte im Bandkosmos des US-Kollektivs. Die Passion und Liebe zur Musik sind Malone und Konsorten ohnehin wichtiger als grölende Massen und schnöde Verkaufszahlen. "Das Musikmachen selbst ist das einzige, was zählt. Diesen Gesichtspunkt sollte man sich immer vor Augen halten! Erfolg lässt sich nicht planen und kann kommen und gehen. Die Flamme der Kreativität aber ist das Einzige, das zählt." Gerade deshalb ist es für die einzelnen Bandmitglieder auch notwendig, ab und zu aus dem Bandschemata auszuscheren. "Es ist absolut okay musikalische Affären zu haben", lacht Malone abschließend, "aber es geht nicht alles unter dem TV-On-The-Radio-Deckel rein." Ob kommerzieller Erfolg oder nicht, TV On The Radio kochen seit mittlerweile 14 Jahren ihr grundeigenes Süppchen. Und Musikconnaisseure wissen – die Zutaten sind die richtigen.

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