SOS-Kinderdorf

Gewalt an Kindern auch in Osttiroler Einrichtung

Tirol
03.11.2025 13:13

Nach Bekanntwerden von Gewaltverdachtsfällen in mehreren SOS-Kinderdorf-Standorten in Österreich soll es nun auch Vorwürfe gegen die Einrichtung in Osttirol geben. Der Dorfleiter übte wohl Gewalt aus, die Mütter sollen „Watschen“ verteilt haben. Auch unter Geschwister-Kindern soll es zu Misshandlungen gekommen sein.

Die Ermittlungen rund um die Gewalt- und Missbrauchsvorwürfe im SOS-Kinderdorf in Österreich dürften wohl auch Osttirol erreicht haben. Auch im Dorf in Nußdorf-Debant gibt es nun Misshandlungsvorwürfe. Wie die APA berichtet, sollen zwei Frauen, die in den 1990er-Jahren dort ihre Kindheit verbracht haben, über strukturelle bzw. sexualisierte Gewalt berichtet haben.

„Es würde mich wundern, wenn es in einem SOS-Kinderdorf keine Gewalt oder Missbrauch gegeben hätte. Das geschlossene, patriarchale System in der Vergangenheit war der Nährboden dafür“, berichtete eine Frau, die ab 1994 zehn Jahre im SOS-Kinderdorf Nussdorf-Debant aufwuchs.

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„Ich galt als rebellisch, weil ich etwa meine Rechte einforderte. Immer wieder kassierte ich vom Dorfleiter eine Watsche.

Eine Betroffene

Das SOS-Kinderdorf in Nußdorf-Debant in Osttirol.
Das SOS-Kinderdorf in Nußdorf-Debant in Osttirol.(Bild: Martin Oberbichler)

Ihren Schilderungen zufolge kam es zu Gewalt durch Erwachsene, auch durch den damaligen Dorfleiter. Die Frau sei häufig betroffen gewesen. „Ich galt als rebellisch, weil ich etwa meine Rechte einforderte. Immer wieder kassierte ich vom Dorfleiter eine Watsche“, berichtet sie.

Auch die zweite Frau bestätigte dies. Die Übergriffe hätten oft vor anderen Kindern stattgefunden. Dazu sei es gekommen, „damit jedes Kind weiß, was ihm blüht, wenn es nicht brav ist, Fehler macht oder sich nicht an die Regeln hält.“ Der Dorfleiter hätte Kinder an den Ohren oder Haaren gezogen.

Auch Mütter übten Gewalt aus
Doch nicht nur der Leiter selbst hätte Gewalt ausgeübt. Auch einzelne Kinderdorf-Mütter hätten Kinder geschlagen. Die Betroffene selbst sei von ihrer Mutter nie geschlagen worden, hätte versucht, ein „braves Kind“ zu sein. Ihre Kinderdorf-Mutter sei „Teil eines Systems“ gewesen, das von patriarchalen Strukturen geprägt war. Der Dorfleiter habe die Regeln bestimmt. 

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Zwei so genannte Hausbrüder haben mich über Jahre hinweg sexuell belästigt.

Eine der betroffenen Frauen

Die ältere Frau erinnert sich an Essensentzug oder Ohrfeigen. Im Winter sei obendrein ihr Kinderzimmer strafweise nicht geheizt worden. 

Die beiden Frauen gaben obendrein an, dass es auch unter den Geschwister-Kindern oft psychische oder physische Gewalt zulasten der Jüngeren gegeben hätte. „Zwei so genannte Hausbrüder haben mich über Jahre hinweg sexuell belästigt“, gibt eine der Frauen an. Dabei sei weggeschaut worden. Die Opfer hätten keine Unterstützung erfahren und „mussten weiterhin mit den Tätern unter einem Dach leben.“

Derzeit rund 60 Kinder in Osttirol
Die Einrichtung in Nußdorf-Debant ist die zweitälteste seiner Art in Österreich. In diesem Jahr feierte man den 70. Geburtstag. Im Jahr 2010 wagte man einen großen Umbruch und setzte auf das integrative Modell „Dorf im Dorf“. Aktuell werden zwischen 50 und 60 Kinder und Jugendliche zwischen drei und 19 Jahren betreut.

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Wir verstehen, dass sich manche Betroffene auch an Medien wenden, um ihre Erfahrungen zu teilen. Es zeigt den nachvollziehbaren Wunsch, Missstände öffentlich und Geschehenes sichtbar zu machen.

SOS-Kinderdorf Österreich

SOS-Kinderdorf Österreich „tief betroffen“
Seitens SOS-Kinderdorf-Österreich nimmt man auf die Vorwürfe Stellung. Das Leid, das den jungen Menschen zugeführt worden sei, mache „uns tief betroffen“. Man wolle sich dafür aufrichtig entschuldigen. „Wir verstehen, dass sich manche Betroffene auch an Medien wenden, um ihre Erfahrungen zu teilen. Es zeigt den nachvollziehbaren Wunsch, Missstände öffentlich und Geschehenes sichtbar zu machen“, hieß es in einer Stellungnahme.

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Alles muss auf den Tisch, jeder einzelne Fall soll aufgeklärt werden. Nur so können wir einen echten Neuanfang gewährleisten.

SOS-Kinderdorf Österreich

Zugleich appellierte man an Betroffene, auch die bestehenden Meldewege bei SOS-Kinderdorf zu nutzen. Damit wolle man jeden einzelnen Fall möglichst sorgfältig dokumentieren, prüfen und aufarbeiten. Man rechne mit weiteren Fällen aus der Vergangenheit. „Alles muss auf den Tisch, jeder einzelne Fall soll aufgeklärt werden. Nur so können wir einen echten Neuanfang gewährleisten.“

Jugendamt forderte Akte erst nach Jahren an
Bei einer der seinerzeit am Standort Nussdorf-Debant untergebrachten Betroffenen dürfte auch das zuständige Jugendamt der gesetzlich vorgeschriebenen Kontroll-Funktion möglicherweise nicht im nötigen Ausmaß nachgekommen sein. Wie die jüngere Frau später aus ihrer Akte erfuhr, forderte das Jugendamt in Innsbruck erst nach sechs Jahren erstmalig vom SOS-Kinderdorf einen Bericht an, um überhaupt feststellen zu können, ob das Kindeswohl des fremduntergebrachten Mädchens gewährleistet war.

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Ich habe mich oft gefragt, warum nie jemand gekommen ist, um zu prüfen, wie es mir tatsächlich geht und wie die Zustände bei uns im Kinderdorf sind.

Die betroffene Frau

„Ich habe mich oft gefragt, warum nie jemand gekommen ist, um zu prüfen, wie es mir tatsächlich geht und wie die Zustände bei uns im Kinderdorf sind“, meint dazu die seinerzeit von sexualisierter Gewalt Betroffene heute. Die psychischen Folgen des Erlebten seien massiv gewesen. Mit ihren schulischen Leistungen sei es bergab gegangen: „Niemand hat nach dem Warum gefragt. Obwohl ich vorher eine sehr gute Schülerin war.“

Stattdessen habe sie der Dorfleiter gegen ihren Willen zwei Mal von höheren Schulen abgemeldet: „Am Anfang des Schuljahres kam die Direktorin nach ein paar Tagen in die Klasse und bat mich mitzukommen. Sie hat mir gesagt, dass ich leider nicht mehr auf die Schule gehen dürfe und dass sie das noch nie erlebt hat, dass eine Jugendliche zur Schule gehen will, es aber nicht darf.“ Ihr Wunsch, die Matura zu machen, sei ihr verwehrt worden: „Das hat mein Selbstvertrauen zerstört.“ Ihren Selbstwert habe sie „in langer Therapie mühsam wieder aufbauen müssen“.

Frau wurde entschädigt
Die Betroffene wandte sich an eine SOS-Kinderdorf-Obmudsstelle und legte ihren Fall dar. SOS-Kinderdorf Österreich bot der Frau auch eine Entschädigung an, nachdem sich die unabhängige Opferschutzkommission mit ihrem Vorbringen befasst hatte. Das Schreiben wurde von der aktuellen Geschäftsführung unterzeichnet. Darin wird ausdrücklich betont, dass das von der Betroffenen erlittene Unrecht anerkannt wird. Die beiden Frauen, die mit der APA Kontakt aufgenommen haben, versichern, dass im Zusammenhang mit gewalttätigen Übergriffen im Osttiroler SOS-Kinderdorf weitere Entschädigungsverfahren für betroffene Zöglinge abgewickelt wurden. Konkret sind den zwei Frauen zwei weitere Fälle bekannt.

Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit nur in Imst
Der Staatsanwaltschaft Innsbruck dürften strafrechtlich relevante Vorwürfe in Bezug auf den Standort Nussdorf-Debant bisher nicht gemeldet worden sein. Bei der Tiroler Anklagebehörde laufen aktuell lediglich Erhebungen zu Misshandlungen am Standort Imst – „konkret in acht Fällen“, wie Mediensprecher Hansjörg Mayr am Wochenende bekräftigte. Es bestünde ein „Anfangsverdacht“, die Staatsanwaltschaft habe Anfang Oktober das Tiroler Landeskriminalamt mit Ermittlungen beauftragt.

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Die Aufarbeitung darf nicht enden. Es darf nicht vom Zufall abhängen, ob man Unterstützung bekommt. Veränderung gelingt nur, wenn Betroffene mitsprechen dürfen.

Die betroffenen Frauen

Frauen wollen keine Rache
Den beiden Betroffenen gehe es nicht um Rache, sondern darum, dass niemand mehr so allein gelassen wird. Man habe als Kind oft Wut auf jene verspürt, die weggesehen haben. „Die Aufarbeitung darf nicht enden. Es darf nicht vom Zufall abhängen, ob man Unterstützung bekommt. Veränderung gelingt nur, wenn Betroffene mitsprechen dürfen.“

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Tiroler Krone
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