Militärexperte:

„Ukraine bleibt wenig Zeit für Rückeroberungen“

Ausland
27.10.2022 18:00

Angesichts des bevorstehenden Winters hat das ukrainische Militär nur mehr wenig Zeit für weitere Gebietsrückeroberungen. Und der ukrainischen Bevölkerung stehe ein „sehr harter Winter“ bevor, wenn Russland weiterhin gezielt die Energieversorgung im Land vernichtet. Bereits bis zu 40 Prozent sind zerstört, sagt Oberst Berthold Sandtner, Forscher am Institut für Höhere Militärische Führung an der Landesverteidigungsakademie in Wien.

Die Ukraine sei derzeit den massiven Angriffen Russlands mit Drohnen aus dem Iran - nicht völlig - aber doch ausgeliefert. Zwar hätten die Ukrainer viele Drohnen abgefangen, aber nicht alle - und die Russen beschießen gezielt Trafostationen und Leitungsknoten. Bereits bis zu 40 Prozent der Energieversorgungsinfrastruktur sei zerstört, so Sandtner im Gespräch mit der APA am Donnerstag. Die Ukraine brauche dringend weitere Fliegerabwehrwaffen. Dass der Westen bei den Waffenlieferungen damit zu weit gehen könnte, glaubt Sandtner nicht.

Experte glaubt nicht an „nukleare Eskalation“
Russland habe zwar rote Linien, so sind bisher noch immer keine westlichen Kampf- und Schützenpanzer geliefert worden. „Aber es laufen schon seit Monaten Lieferungen von Fliegerabwehrwaffen, etwa aus Deutschland und den USA, ein. Ich glaube nicht, dass diese Waffenlieferungen ein unmittelbarer Trigger für eine nukleare Eskalation sind“, so der Militärexperte auf eine entsprechende Frage. Punkto Waffenlieferungen aus dem Westen in die Ukraine sei das russische Rational aber nicht immer zu verstehen.

Der Westen habe sich mit der Zeit daran herangetastet, was man liefern könne und sei dabei immer offensiver geworden. Panzer seien aber das, was die Ukrainer brauchen würden, um im Frühjahr neue Offensiven machen zu können und Gebiete zurückzuerobern. In diesem Jahr habe bereits die regnerische Saison begonnen und es werde immer schwieriger für die Truppen sich zu bewegen. Wenn die Ukrainer noch heuer etwas erreichen wollen, müsse dies in den nächsten Wochen passieren.

Russen ziehen Verteidigungslinien
Denn die Russen bringen weitere Reservisten in den Raum und ziehen Verteidigungslinien. Als Beispiel nennt Sandtner die südliche Stadt Cherson am Fluss Dnjepr. Diese sei bisher relativ unbeschädigt geblieben. Wenn die Ukrainer mit massiver Gewalt versuchen würden, die Russen dort herauszutreiben, würde das furchtbare Zerstörungen in der Stadt bedeuten. Es sei aber schwer zu sagen, was die ukrainische Führung plane.

Von drei möglichen Szenarien in der Oblast Cherson hält Sandtner es für am wahrscheinlichsten, dass die Russen zumindest die Stadt Cherson halten wollen und die weiteren Kräfte gegebenenfalls über den Dnjepr zurückziehen könnten. Im Zusammenhang damit weist Sandtner auf eine mögliche, bisher nicht eingesetzte ukrainische Kräftegruppierung im Raum Saporischschja hin. Ziel könnte es sein, mit diesen Kräften noch vor dem Winter die schwache russische Verteidigungslinie in Richtung Melitopol am Asowschen Meer zu durchbrechen. „Dies würde möglicherweise zu einem Zusammenbruch die russische Front zwischen der Krim und dem Donbass führen.“

„Schmutzige Bombe“ als „Massenverunsicherungswaffe“
Zur Frage nach einer weiteren Eskalation schließt Sandtner jedoch aus, dass die Ukrainer - wie von Russland behauptet - auf ihrem eigenen Staatsgebiet eine „schmutzige Bombe“ zünden wollen. So werden konventionelle Sprengsätze bezeichnet, die auch radioaktives Material verstreuen. Bei einer „dirty bomb“ handle es sich „um keine Massenvernichtungswaffe im klassischen Sinne, sondern viel eher um eine Massenverunsicherungswaffe, bei der der psychologische Effekt jedenfalls den radiologischen übersteigt“, sagt Sandtner.

Seiner Meinung nach wollen die Russen mit dieser Ankündigung vielmehr „Angst und Schrecken verbreiten“. Dass sie diese Waffe ins Spiel bringen, habe den Zweck, „das psychologische Narrativ zu bedienen“ und nicht Erfolge am Gefechtsfeld zu erzielen. Die Wirkung einer solchen Bombe hängt von ihrer Größe ab, ist aber jedenfalls kleinräumig bis regional beschränkt. Einen deutlich größeren Schaden würde natürlich die Freisetzung von Radionukliden (nach einem gezielten Angriff) aus einem Kernkraftwerk bedeuten. So etwas falle allerdings nicht unter dem Begriff „dirty bomb“.

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