Schneider-Serie

Keine Leidenschaft ohne Freiheit

Vorarlberg
04.09.2022 11:25

In seiner Reihe „Hier war ich glücklich“ begleitet Robert Schneider Vorarlberger an die Lieblingsplätze ihrer Kindheit. In Lustenau traf er vor einigen Tagen die Montessori-Pädagogin Evi Hagen.

Die Neubaustraße in Lustenau ist eine schmale Wohnstraße - mehr Weg als Straße -, die sich entlang des steil aufschießenden Rheindamms schnurgerade dahinzieht. Auf dem Damm schlummert das Geleise des Rheinbähnles seinen Dornröschenschlaf - die ehemalige Güterbahn der Rheinregulierung. Grasnarben wachsen zischen den Schwellen, die ersten Herbstblumen. „Als Kinder sind wir noch oft auf die Güterwagen aufgesprungen, weil das Zügle so langsam fuhr. Natürlich war das streng verboten“, sagt Evi Hagen, die ich im Garten ihres Elternhauses treffe. Die Mama ist auch dabei, bringt Kaffee und Sckokokekse, die sofort in der Sonne zerlaufen. So schnell kann ich sie gar nicht verputzen. „Ich stelle sie lieber wieder in den Kühlschrank“, meint die Mama. Sie ist die Generation, die noch Entbehrung kannte, ihre Wünsche nicht leben durfte - anders als wir, die lange nach dem Krieg aufgewachsen sind. Evi Hagen ist klassische Grundschullehrerin in der Volksschule Kirchdorf, hat sich aber von Beginn ihrer Ausbildung an intensiv mit reformpädagogischen Schulkonzepten nach Maria Montessori beschäftigt.

Robert Schneider: Ihr seid vier Mädchen in der Familie. Fehlte da nicht ein Junge?
Evi Hagen: In der ganzen Straße gab es nur Mädchen. Doch, einen Buben gab es...

Schneider: ...der bestimmt der Hahn im Korb war?
Hagen: Das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls bin ich unter lauter Mädchen aufgewachsen. Aber auch wir haben hier die Gegend unsicher gemacht, waren viel am Rheinufer, obwohl es uns Kindern nicht erlaubt war, über den Damm zu klettern.

Die Mama seufzt und wirft ein: „Mir hat einfach immer das Urvertrauen gefehlt. Erst als die Mädchen erwachsen waren, habe sie mir gebeichtet: Mama, du weißt gar nicht, wie oft wir am Rhein waren!“

Schneider: Evi, hast Du Urvertrauen?
Hagen: Voll und ganz.

Schneider: Wann ist der Rhein am interessantesten? Doch bei Hochwasser, oder?
Hagen: Gar nicht. Ich mochte es viel lieber, wenn er wenig Wasser führte. Dann zeigte sich am Ufer so ein dunkler Sand mit vielen Steinen und Grasinseln. Auf diesen Grasinseln haben wir gespielt. Einmal bemerkten wir zu spät, dass das Wasser plötzlich anstieg und kamen nicht mehr trockenen Fußes ans Ufer zurück.

Schneider: Was war der Impuls, dass Du dich für alternative Lernkonzepte entschieden hast?
Hagen: Ich weiß nicht, ob Dir der Name Mauricio Wild etwas sagt. Er war Mitbegründer der Lernumgebung „Pesta“ in Ecuador, hat dort eine Schule gegründet, die ich für die großartigste überhaupt halte. Sein Konzept lautete, Unterricht ohne Direktivität, also Fremdbestimmtheit. Ich habe ihn auf einem Intensivseminar in Arbogast kennengelernt und danach einfach nur drei Tage lang geweint. Weil ich erkannte, dass wir ausschließlich fremdbestimmt sind und in Wirklichkeit nicht selbst handeln, dass hingegen noch im Kind alles angelegt wäre.

Schneider: Für mich als Laie: Was ist das Wesen des Montessori-Konzepts?
Hagen: Ein ganz wichtiger Bestandteil ist zuerst einmal die Jahrgangsmischung. Es gibt sogenannte Familienklassen. Mehrere Schulstufen in einer Klasse. Es ist im Grunde das Abbild der Gesellschaft im Kleinen. Die jüngeren Kinder lernen von den älteren, aber auch umgekehrt. Die Lehrerrolle ist mehr die des Begleiters und Beobachters. Auch das Lernmaterial ist anders, ohne das jetzt zu vertiefen. Im Grunde geht es darum, von der Ganzheitlichkeit ins Detail zu gehen, nicht umgekehrt. Anders ausgedrückt: die Welt den Kindern an die Hand geben, wo sie dann die Details entdecken können.

Schneider: Wir stehen am Beginn eines neuen Schuljahres. Meine Buben jammern, dass sie wieder zur Schule müssen. Sollte es nicht umgekehrt sein?
Hagen: Da kann ich Dich beruhigen. Auch bei uns gibt es Kinder, die nicht gern in die Montessori-Klasse gehen. Letztlich stehen hinter Konzepten immer nur Menschen. Ich hatte auch Lehrer oder Lehrerinnen, die ich mochte oder eben nicht. Die Erfahrung macht jeder. Soll auch jeder machen. So ist die Welt. Später wird es nicht anders sein. Eines war für mich aber immer klar: Nur das, was ein Mensch aus Freiheit tut, tut er mit Leidenschaft.

Schneider: Besteht der Graben zwischen dem klassischen Schulmodell und den alternativen Lernkonzepten noch immer?
Hagen: Nein, das hat sich in den vergangenen Jahren sehr zum Guten gewendet. Beide Seiten haben angefangen, einander zuzuhören und voneinander zu lernen. Auch Montessori muss mit der Zeit gehen, alte Konzepte neu überdenken. Das ist eine stetige Herausforderung, gerade bei den Neuen Medien, in denen sich die Kinder bewegen. Ich beobachte allerdings mit Sorge, wie viel die Kontrolle in den letzten Jahren zugenommen hat. Diese sogenannten „Bildungsstandards“. Schon in der dritten Schulstufe sind die Kinder einem hochkomplizierten Test unterworfen, der sie für etwas prädestinieren soll, was im Grunde noch gar nicht angelegt ist. Gerade nach Corona bemerkten wir, wie sehr die Kinder nach sozialen Kontakten gehungert haben. Sie wollten sich einfach wieder nahekommen. Reden, spielen, einander anfassen. Soziale Kompetenz ist leider ein sehr unterschätztes Gut.

Schneider: Was ist für Dich Glück?
Hagen: Boden unter den Füßen zu haben. Das Schroffe, das Weiche. Ich bin wahnsinnig gern in den Bergen oder am Meer. Wenn ich irgendwo hochradle und plötzlich den ganzen Bodensee vor mir sehe. Das ist Glück.

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