George Nussbaumer

Die kontrollierte Leichtsinnigkeit

Vorarlberg
08.05.2022 07:30

In seiner Reihe „Hier war ich glücklich“ begleitet Robert Schneider bekannte und weniger bekannte Menschen aus Vorarlberg an die Lieblingsplätze ihrer Kindheit. In Dornbirn hat er dieser Tage den Musiker und Komponisten George Nussbaumer getroffen.

Eine Sackgasse in Dornbirn. Rechts und links Ein- oder Mehrfamilienhäuser. Dahinter die blühenden Baumkronen von Apfelbäumen. Eine Siedlung, wie sie überall sein könnte. „Mittelforach. Kindheit in der Sackgasse“, scherzt George Nussbaumer, mein Interviewgast. Lange habe ich nach dieser Sackgasse gesucht. Mein Navi wusste nichts davon. Rohrbach, ja. Forachstraße, ja. Aber Mittelforach? Wir mussten einige Male stehen bleiben und Leute auf der Straße fragen. Endlich. Die Hausnummer stimmt auch. Ich helfe George aus dem Auto. „Führ mich an die Haustür. Vielleicht ist noch alles so, wie es damals war. Wir sind 1967 in den ersten Stock dieses Hauses gezogen. Ich war vier Jahre alt. Seitdem bin ich nie mehr hier gewesen.“ Er tastet vorsichtig mit seinen Schuhen über die geteerte Straße und lauscht.

„Damals war das ein Kiesweg mit Schlaglöchern drin. Wenn mich die Mama ins Bett gebracht hat, im Frühling, konnte ich von ferne die Frösche quaken hören. Das war ein geheimnisvoller Klang. In dieser Straße lebten viele Familien mit Kindern. Albert und Alfred waren meine besten Freunde. Etwas verwahrlost, weil der Vater Alkoholiker war. Aber die zwei haben mich immer beschützt, wenn es um Mutproben ging. Man nannte mich die ’Blindschleiche’. Wir haben Sauerampfer gegessen, verbotene Feuerchen gemacht und ’Blinde Kuh’ gespielt. Die Nachbarskinder wunderten sich immer, weil ich sie so schnell fangen konnte. Anstatt mir die Ohren zu verbinden - auf diese Idee kamen sie nicht -, verbanden sie mir die Augen.“ George Nussbaumer ist schon so im Erzählschwang, dass ich ihn gar nicht mehr bremsen möchte.

Ich beschreibe ihm das Haus. Mehrstöckig, rosa Verputz mit Flechten dran. Die Farbe an den Fensterstöcken und -laden ist schon lange abgeplatzt. Über der Tür sitzt ein kleiner Balkon, der von Efeu überwuchert ist. „Bring mich direkt zur Haustür“, wiederholt George noch einmal. Dann wird er für einige Momente ganz still. Tastet mit den Fingern den Türgriff entlang, über den Postkasten, prüft mit den Schuhspitzen die Unebenheiten der Waschbetonplatten. „Es ist noch genau so wie damals“, ruft er aus. „Genau so! Ich habe diese Waschbetonplatten geliebt! Die hatten so Unebenheiten. Wenn ich mit dem Dreirad über die Platten gefahren bin, erzeugte das ein geheimnisvolles, rhythmisches Geräusch. Stundenlang bin ich vor der Haustür mit meinem Dreirad aus Blech im Kreis gefahren! Das war mein Platz. Mein Ort.“

Robert Schneider:Wie würdest Du Glück heute beschreiben?
George Nussbaumer: Klingt natürlich blöd, wenn einer wie ich das jetzt sagt, aber die wichtigste Zutat für Glück ist blindes Vertrauen. Und zwar Vertrauen in alles. Das ist eine Haltung. Vielleicht kann man sich das auch gar nicht erarbeiten, diese Gewissheit, dass mir nichts passieren kann. Und wenn es passiert, ist es halt so. Aber ich will nicht darüber nachdenken, was geschehen könnte, wenn es noch gar nicht geschehen ist. Diese Zutat, gepaart mit einer gewissen kontrollierten Leichtsinnigkeit, ist für mich Glück. Dann habe ich alles. Ich bin nicht jemand, der sich laufend der Frage hingibt: Was wäre, wenn? Mein Blindsein hat mich auch immer beschützt, nämlich das Leben mit einer gewissen Vorsicht zu gestalten. Klingt komisch, nicht? Wie soll ich es formulieren? Du kannst keine Freunde bekommen, wenn du permanent in dem Gefühl lebst, sie wollen ja eigentlich gar nicht deine Freunde sein.

Schneider:Unsere Zeit ist voller Misstrauen. Skeptiker überall. Warum?
Nussbaumer: Das stimmt. Ich höre so oft, dass man in Wahrheit niemandem mehr vertrauen kann. Damit sagt die- oder derjenige im Grunde nichts anderes, als dass sie oder er sich selber nicht mehr vertraut. Glück ist auch Arbeit. Ich glaube wirklich, dass man sich das blinde Vertrauen, von dem ich vorhin gesprochen habe, auch ein wenig erarbeiten kann. Natürlich dürfen Ängste sein. Was ist, wenn mein Partner vor mir stirbt? Was ist, wenn ich meinen Beruf verliere? Was ist, wenn der Krieg kommt? Aber genau diesem Moment der Angst darf ich mich nicht zu sehr hingeben. Das verstehe ich unter Arbeit am Glück. Ich muss es auch schaffen, zu sehen, dass jetzt, genau jetzt, doch alles gut ist. Niemand hat garantierte Sicherheiten. Die gibt es einfach nicht. Nur den Moment gibt es, den Augenblick.

Schneider: Hast Du als Kind unter deinem Blindsein gelitten?
Nussbaumer: Ich kannte das Sehen ja nicht. Also war mir das auch gar nicht bewusst. Ich habe noch vier Geschwister, und es war einfach selbstverständlich. Wir spielten und stritten miteinander, wie andere Geschwister auch. Ich habe mich zum Beispiel sehr vor der Dunkelheit gefürchtet. Aber nicht, weil ich sie gesehen habe, sondern weil sich die anderen davor gefürchtet haben. Nein, ich durfte als Kind überall mit dabei sein, wurde nie ausgeschlossen. Und wenn ich die Mama beim Bügeln genervt habe, indem ich ewig um sie herumscharwenzelte und immer „Mir ist langweilig!“ gerufen habe, hat sie nur stoisch geantwortet: „Dann ist Dir halt langweilig.“ Ich bin auf die Sonnenseite gefallen.

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