Ablenkungsmanöver?

Rätselraten um Borissow-Festnahme in Bulgarien

Ausland
20.03.2022 12:13

Die überraschende Festnahme des früheren bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow am Donnerstag hat nach 24 Stunden mit seiner Freilassung geendet - ohne Anklage, ohne Begründung. Die nächtliche Polizeiaktion ließ viele Fragen offen. War es der Auftakt zu einer umfassenden Korruptionsbekämpfung oder schlicht ein politisches Ablenkungsmanöver? Politische Beobachter in Sofia sprechen von einem Wendepunkt, wenn sich die Zukunft der erst seit Dezember regierenden, kompliziert-bunten Viererkoalition entscheidet.

Bojko Borissow (62) war zwischen 2009 bis 2021 mit kurzer Unterbrechung bulgarischer Ministerpräsident. Erst vor einer Woche war er als Vorsitzender seiner bürgerlichen GERB-Partei wiedergewählt worden, die aktuell stärkste Oppositionskraft im bulgarischen Parlament ist. Kritiker warfen Borissow immer wieder eine korrupte Amtsführung vor, was im Sommer 2020 zu Massenprotesten gegen seine Regierung führte.

Die Parlamentswahl im November 2021 - ob der schwierigen innenpolitischen Lage eine von drei Wahlen im vergangenen Jahr - hatte überraschend klar die neu gegründete Antikorruptionspartei „Wandel fortgesetzt“ (PP) des heutigen Regierungschefs Kiril Petkow (41) und von Vize-Premier Assen Wassilew (44) gewonnen. Sie leiten eine Viererkoalition zusammen mit einer populistischen, einer konservativen und einer sozialistischen Partei.

Die vier ideologisch weit voneinander entfernt liegenden Gruppierungen einte der Wille, den aus ihrer Sicht korrupten Machtapparat Borissows „auszuradieren“, wie es einer der vier Parteichefs formuliert hatte. Dennoch kam die jüngste Festnahme Borissows sowie des ehemaligen Finanzministers Wladislaw Goranow und Borissows Regierungssprecherin Sewdalina Arnaudowa für die bulgarische Öffentlichkeit und Politik völlig überraschend.

Mehr Fragen als Antworten
Gibt es handfestes Beweismaterial gegen Borissow? Will die neue Regierung, die sich die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen geschrieben hat, mit dem vom Ex-Premier errichteten Klientelsystem juristisch abrechnen oder befindet sie sich bloß so auf dem Rachepfad? Warum erfolgte die spektakuläre Polizeiaktion ausgerechnet am Vorabend des Besuchs von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in Bulgarien? Es gibt mehr Fragen als Antworten, und das deutet auf eine komplexe Verflechtung verschiedener Themen hin.

Die Festnahme Borissows wurde zunächst mit dem Besuch der Leiterin der Europäischen Staatsanwaltschaft, Laura Kövesi, in Sofia in Verbindung gebracht. Die europäische Chefanklägerin hatte die neue Regierung für ihre Entschlossenheit im Kampf gegen die Korruption gelobt und gesagt, die EU-Staatsanwaltschaft arbeite an 120 Verfahren wegen Veruntreuung von EU-Geldern in Bulgarien, darunter Agrarhilfen, Bauinvestitionen und Corona-Gelder.

Ermittlungen wegen Missbrauchs von EU-Geldern
Die Festnahme Borissows erfolgte einen Tag nach der Visite Kövesis. Eine konkrete Anklage gegen den Politiker liegt bisher nicht vor. Das Innenministerium hatte anfangs erklärt, gegen den heutigen Oppositionsführer und seine Vertrauten Goranow und Arnaudowa werde wegen Missbrauchs von EU-Geldern ermittelt. Kurz darauf wurde allerdings die Information von der Webseite des Innenministeriums entfernt.

Vorwurf der Erpressung
Für Verwirrung sorgte auch die Andeutung von Vize-Premier und Finanzministers Wassilew, dass die Festnahmen auf Hinweise eines in Dubai lebenden, bulgarischen Oligarchen zurückzuführen seien. Wassil Boschkow, genannt „der Schädel“, wirft Borissow und Goranow Erpressung vor. Er ist einer der reichsten Bulgaren. Er kam unter anderem mit Glücksspiel-, Bank- und Investmentgeschäften zu einem Milliardenvermögen.

Während der Regierungszeit von Borissow leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Boschkow ein und erhob zahlreiche Anklagen gegen ihn, unter anderem wegen Steuerhinterziehung. 2020 flüchtete er ins Ausland und behauptet seitdem, Schmiergelder in zweistelliger Millionenhöhe an Borissow und sein Umfeld gezahlt zu haben. Die USA haben im vergangenen Sommer gegen ihn Sanktionen wegen Korruptionsvorwürfen verhängt.

Staatsanwaltschaft erhob bislang keine Anklage
Nachdem die Polizei den früheren Ministerpräsidenten festgenommen hatte, verlautete aus der Staatsanwaltschaft im Gegensatz zum Innenministerium, man ermittle wegen des Verdachts auf Erpressung und schließe die Zuständigkeit der EU-Staatsanwaltschaft aus. Dass die Staatsanwaltschaft indes keine Anklage erhob, bezeichnete Finanzminister Wassilew als „Boykott“ der polizeilichen Ermittlungen. In den Augen der Regierung ist Generalstaatsanwalt Iwan Geschew ein Überbleibsel des „Systems Borissow“.

Kritik an „Polizeiwillkür“
„Keine Vorwürfe, nichts“, sagte Borissow nach seiner Freilassung. Seine Festnahme nannte er „brutal und empörend“. Vor dem Polizeirevier hatten sich zahlreiche Anhänger und Aktivisten seiner GERB-Partei versammelt, die zuvor auch einen Protest vor dem Regierungsgebäude organisiert hatten, um gegen die „Polizeiwillkür“ zu protestieren. Der stellvertretende GERB-Parteichef Daniel Mitow kündigte einen Misstrauensantrag gegen die Regierung im Parlament an. „Diese Regierung hat sich erlaubt, das Vertrauen der EU-Staatsanwaltschaft zu missbrauchen. Sollte Regierungschef Kiril Petkow die Festnahme des Oppositionsführers gefordert haben, wie zu hören ist, haben wir ein Problem“, sagte Mitow.

Kampf gegen Korruption oder politisches Ablenkungsmanöver?
Die politische Beobachterin Antoaneta Hristowa sprach von einem Wendepunkt für die neue Reformregierung: „Entweder beruht diese Festnahme auf handfesten Beweisen und kann als Beginn der Korruptionsbekämpfung betrachtet werden, oder sie ist nur ein politisches Manöver und wird in eine schwere politische Krise münden“, kommentierte Hristowa im öffentlich-rechtlichen Fernsehen BNT.

Der Verdacht, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver handeln könnte, tauchte wegen des mit Spannung erwarteten Besuchs von US-Verteidigungsminister Austin am Freitag und Samstag auf. Schon im Vorfeld gab es Aufregung in Sofia, denn es wurde erwartet, dass die USA Bulgarien überzeugen wollen, sein S-300 Flugabwehrsystem sowjetischer Bauart an die Ukraine zu liefern - gegen einen gleichwertigen Ersatz von den USA.

Streit um Waffenlieferungen an Ukraine
Die moskautreue Sozialistische Partei (BSP), die an der Regierung beteiligt ist, weigert sich vehement, Waffenlieferungen an die Ukraine zuzustimmen. Auch der als kreml-freundlich geltende Staatspräsident Rumen Radew, ein ehemaliger General, warnte vor einer Verwicklung Bulgariens in den Krieg, sollte sich Sofia für Waffenlieferungen an die Ukraine entscheiden.

Nach den Gesprächen von Austin in Sofia wurde bekannt, dass Bulgarien vorerst keine Waffen an die Ukraine liefern wird. Die USA entsenden allerdings ein Truppenkontingent nach Bulgarien zur Stärkung der NATO-Ostflanke. Auffallend war, dass Austin mit Petkow und Verteidigungsminister Sakow zusammentraf, nicht jedoch mit Präsident Radew als Oberbefehlshaber der Armee.

Regierungskoalition verliert an Zuspruch
Die Mutmaßungen über ein mögliches Ablenkungsmanöver werden auch von der sinkenden Unterstützung für die Regierung genährt. Jüngste Meinungsumfragen haben zwar ergeben, dass Petkows Partei „Wandel fortgesetzt“ nach wie vor mit knapp 23 Prozent die größte Unterstützung hat. Sie hat allerdings an Zuspruch verloren, und Borissows GERB liegt nur einen Prozentpunkt dahinter, ergab eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts „Trend“ diese Woche.

Der Zuspruch für die Regierungskoalition liegt derzeit bei lediglich 29 Prozent; 56 Prozent sind mit der Arbeit der Regierung unzufrieden. Auch Präsident Radew hat rund sechs Prozent an Zustimmung eingebüßt. Die geplanten Reformen der komplizierten Viererkoalition, für die Petkows PP gewählt wurde - gerade im Justizbereich - stocken zugleich.

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