Drohungen, Angriffe, Beleidigungen – die Zahl der antisemitischen Vorfälle im ersten Halbjahr 2025 hat sich zwar auf alarmierend hohem Niveau stabilisiert, doch Entwarnung gibt es keine. Betroffene ziehen sich offenbar immer häufiger zurück, statt Vorfälle zu melden oder anzuzeigen. Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien geht daher von einer deutlich höheren Dunkelziffer. Die Regierung kündigte indes die Präsentation der überarbeiteten Nationalen Strategie gegen Antisemitismus an.
Das Leben von Jüdinnen und Juden ist auch mehr als zwei Jahre nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober nicht einfacher geworden. Laut dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht der IKG werden nur Fälle erfasst, die eindeutig als antisemitisch bestätigt sind, erklärt Johannan Edelman, Leiter der Meldestelle. Edelman warnt zugleich vor einer sinkenden Bereitschaft, Übergriffe zu melden. Immer öfter zögen sich Betroffene zurück, viele wollten nach antisemitischen Vorfällen weder Betreuung noch eine Aufnahme in die Statistik.
Dunkelziffer steigt: Hass bleibt oft ungemeldet
Edelman geht deshalb von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. Der Angriff und die seither anhaltende Grenzverschiebung eines gesellschaftlichen, medialen und politischen Diskurses hätten laut dem Bericht bei vielen Jüdinnen und Juden zu einer Art emotionaler Abstumpfung geführt – als Schutz vor der dauernden Belastung. Diskriminierungen, Beleidigungen und Drohungen würden zunehmend hingenommen, statt angezeigt zu werden.
Die Meldestelle des IKG veröffentlichte am Mittwoch die alarmierenden Zahlen:
Von 1. Jänner bis 30. Juni 2025 zählte die Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) 726 antisemitische Vorfälle in Österreich. Ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr mit 808 Fällen – doch im Vergleich zu 2023, also vor dem Hamas-Massaker, hat sich die Zahl von damals 311 Übergriffen mehr als verdoppelt. „Der antisemitische Tsunami wurde zu einer andauernden Überflutung“, sagt IKG-Präsident Oskar Deutsch. Jüdinnen und Juden leben laut Deutsch in ständiger Bedrohung – jüdisches Leben in Österreich sei nur dank massiver Sicherheitsmaßnahmen möglich.
Wir stellen fest, dass antisemitische Übergriffe zur Dauerbelastung wurden. Der Alltag vieler Gemeindemitglieder ist von einem latenten Unsicherheitsgefühl begleitet.
IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele
Nägele: „Latentes Unsicherheitsgefühl“
Die Meldestelle verzeichnete fünf körperliche Angriffe, acht Bedrohungen, 78 Sachbeschädigungen, 203 Hassbotschaften und 432 Fälle verletzenden Verhaltens. Am häufigsten trat israelbezogener Hass auf, gefolgt von „antisemitischem Othering“ – also Äußerungen in Worten oder Bildern, die Jüdinnen und Juden als fremd, exotisch oder nicht dazugehörig darstellen – sowie Relativierungen der Schoa. In 77 Fällen wurde sogar zu Terror gegen Juden aufgerufen oder dieser offen verherrlicht.
202 Übergriffe stammten aus dem linken Spektrum, 195 aus muslimischem Umfeld, 147 aus dem rechten. „Wir stellen fest, dass antisemitische Übergriffe zur Dauerbelastung wurden. Der Alltag vieler Gemeindemitglieder ist von einem latenten Unsicherheitsgefühl begleitet“, warnt IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele – und fordert Politik, Justiz und Gesellschaft zum Handeln auf.
Hass im Hochsommer spitzte sich weiter zu
Gerade in den Sommermonaten spitzte sich die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden dramatisch zu. Meldestelllen-Leiter Edelman warnt: „Bereits in den ersten Wochen nach Ende des Berichtzeitraums überstieg die Zahl der dokumentierten physischen Angriffe und Bedrohungen die Gesamtzahl der gemeldeten Vorfälle des ersten Halbjahres 2025“ Eine komplette Jahresstatistik für 2025 soll im Frühjahr 2026 vorliegen.
Politik kündigt entschlossenes Vorgehen an
Die überarbeitete Nationale Strategie gegen Antisemitismus wird am 10. November vorgestellt, kündigte Staatssekretär Alexander Pröll (ÖVP) an. Er betonte: „Wer jüdisches Leben in Österreich erhalten will, braucht Schutz, Solidarität und klare Haltung – jeden Tag.“ Die aktuellen Zahlen seien ein Weckruf, Antisemitismus werde zunehmend als normal hingenommen
Auch Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) bekräftigte, dass der Schutz der jüdischen Gemeinschaft zentraler Teil der Regierungsarbeit sei. Außenministerin Beate Meinl-Reisinger (NEOS) forderte ein entschlosseneres Vorgehen gegen Gewalt, Hass und Hetze. Die Strategie soll deshalb überarbeitet und die Demokratiebildung ausgebaut werden, denn Antisemitismus bedrohe nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern die demokratischen Grundwerte.
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