Halid Gamaev aus dem steirischen Leoben leidet an der seltenen Schmetterlingskrankheit, die extreme Hautempfindlichkeit und Schmerzen verursacht und für seine Familie einen kräftezehrenden Pflegealltag bedeutet. Trotz des enormen Betreuungsaufwands wurde dem Buben zunächst nur die niedrigste Pflegestufe zugesprochen. Der Fall macht den dringenden Reformbedarf deutlich.
Auf dem schön gedeckten Tisch steht eine Torte, liebevoll von Mama Aisha zubereitet. Halid kann es kaum erwarten, ein Stück davon zu essen. Der Zweijährige liebt wie alle Kinder Süßes, wegen der weichen Konsistenz ist dieser Leckerbissen für den Buben aber ganz besonders attraktiv: Es ist einer der wenigen Momente, in denen Essen keine Qual bedeutet. Denn Schlucken bereitet ihm fast immer Schmerzen.
Halid Gamaev lebt mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder in einer Wohnung in Leoben. Seit seiner Geburt leidet der Bub an rezessiv dystropher Epidermolysis bullosa (RDEB), der schwersten Form der sogenannten Schmetterlingskrankheit. Eine seltene genetische Erkrankung, bei der Haut und Schleimhäute extrem verletzlich sind, Blasen bilden und Wunden nur schwer heilen. „Da auch Speiseröhre und Darm betroffen sind, kann Halid nur weiche Speisen essen“, erzählt Vater Ali. „Selbst beim Brot müssen wir die Rinde abschneiden.“
Ein Alltag im Ausnahmezustand
Was für andere Familien normal ist – ein Spaziergang, ein Besuch am Spielplatz –, ist für die Gamaevs mit enormem Aufwand verbunden. „Einmal nicht aufgepasst, und die Knie oder Hände sind blutig“, sagt Aisha. Ihre Stimme ist ruhig, aber man hört die Erschöpfung. Halid hat offene Stellen am ganzen Körper. Schon kleinste Berührungen können zu Verletzungen führen. Die Wunden müssen regelmäßig versorgt, die Verbände mehrmals täglich – auch nachts – gewechselt werden. Der Bub und seine Eltern schlafen keine Nacht durch.
Leider passiert es ganz oft, dass Pflegegeld-Einstufungen zu niedrig vorgenommen werden. Beeinspruchungen gehören zu unserem Alltag.
Katrin Randysek von der Patientenorganisation Debra
Die Diagnose kam einen Tag nach seiner Geburt. „Da war eine kleine offene Stelle am Bein“, erinnert sich Aisha. Die Ärzte wurden nervös. Am nächsten Tag kam die Gewissheit: Halid leidet an RDEB. „Wir wussten nicht, was das bedeutet – wir haben erst einmal gegoogelt.“ Kurz darauf die nächste Hiobsbotschaft: Halid hat eine der schwersten Formen erwischt. Jetzt rinnen bei der Mutter im Rückblick das erste Mal die Tränen.
Rückhalt durch Familie – und einen engagierten Nachbarn
Großeltern und Verwandte helfen, wo sie können. Die Wohnung wurde auf Halids Bedürfnisse angepasst: weiche Bodenbeläge, gepolsterte Möbel, abgeklebte Ecken. Pyjamas werden auf links gedreht, um die Nähte von der Haut fernzuhalten. Trotz allem wird das Leben nie wirklich einfach. „Manche Tage sind besser, manche schlechter“, sagt Ali.
Neben der körperlichen Belastung wiegt auch die finanzielle schwer. Vater Ali betreibt eine kleine Firma, doch die Spezialausstattung für Halid – orthopädische Schuhe, spezielle Kleidung, angepasste Spielsachen – verschlingt viel Geld. Dazu kommen Medikamente und Pflegeprodukte. „Allein die Verbände kosten ein Vermögen“, so Aisha.
Umso größer war der Schock, als die Versicherung Halid in die niedrigste Pflegestufe einstufte. „Da fühlt man sich vom System im Stich gelassen“, sagt Ali. Widerspruch einlegen? „Wir wussten gar nicht, dass das geht. Außerdem brauchen wir unsere Ressourcen wirklich für etwas anderes.“
Ihr Glück: Pflegeexperte Klaus Katzianka, der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnt, bekommt Wind vom Schicksal der Gamaevs. Der Leobner ist selbst seit seiner Geburt rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Er nimmt sich dem Fall in seiner Freizeit an – mit Erfolg: Halid wurde inzwischen auf Pflegestufe 4 eingestuft. Katzianka betont jedoch: „Angemessen wäre Pflegestufe 6. Aber das Gesetz lässt das nicht zu.“
Epidermolysis bullosa (EB) ist eine angeborene Hauterkrankung und zählt zu den seltenen Erkrankungen. EB bewirkt, dass die Haut bei geringsten Belastungen Blasen bildet oder reißt. Wunden können auch an den Schleimhäuten, in Mund, Augen, Speiseröhre und im Magen-Darm-Trakt auftreten. Bei schweren Formen ist die Lebenserwartung verkürzt. In Österreich gibt es 500 Betroffene, in ganz Europa sind es um die 30.000 Menschen, die mit EB diagnostiziert wurden.
DEBRA Austria ist eine über Spenden finanzierte Patientenorganisation für Betroffene.
Spenden werden dankbar angenommen: www.Schmetterlingskinder.at
IBAN: AT022011180080181100
BIC: GIBAATWWXXX
ZVR: 412404499
Die gesetzliche Pflegeeinstufung basiert auf einem starren Regelwerk – oft orientiert an Erwachsenen. Viele Handgriffe, die bei Kindern wie Halid nötig sind, fließen nicht in die Bewertung ein. „Der letzte Gutachter war bemüht, auch eine Richterin. Aber das Problem liegt im System“, sagt Katzianka. Dazu komme: „Gutachter, die niedrig einstufen, erhalten oft mehr Folgeaufträge.“
Unterstützung für Betroffene
Das kennt auch Katrin Randysek von der Organisation Debra mit Sitz in Salzburg, die sich auf die Hilfe für Schmetterlingskinder spezialisiert hat: „In Österreich gibt es geschätzt 500 Betroffene. Leider passiert es ganz oft, dass Pflegegeld-Einstufungen zu niedrig vorgenommen werden. Beeinspruchungen gehören daher zu unserem Alltag.“
Aber auch mit der richtigen Beurteilung reicht das Geld zumeist nicht aus: „Von Verbänden über Greifhilfen, die die Patienten wegen der zusammenwachsenden Finger benötigen, bis zu antibakterieller Kleidung – das alles ist wahnsinnig teuer, auch da versuchen wir zu unterstützen“, sagt die Expertin.
Kleiner Kämpfer, große Hoffnung
Halid lacht. Er hat es geschafft, sich mit seinem bandagierten Händchen ein zweites Stück Torte zu holen – ein Moment, in dem alles fast normal wirkt. Er wirft seinem Besuch einen Softball zu. „Spiel mit mir“, sagt er. Doch kurz darauf folgt der nächste Verbandswechsel – wieder Schmerzen, wieder Tränen.
Ein Monat hat rund 730 Stunden. Für Halid wurden 178 Stunden Pflegeaufwand anerkannt – obwohl er keine Sekunde unbeaufsichtigt bleiben kann. Gemeinsam mit Klaus Katzianka kämpft die Familie weiter: für Gerechtigkeit, für andere Betroffene. „Wir machen das nicht nur für uns“, sagt Aisha, „sondern für alle Schmetterlingskinder in Österreich.“
Der Pflegebereich steht in Österreich zunehmend unter Druck. Um auf Missstände aufmerksam zu machen, haben der behindertenpolitische Aktivist Klaus Katzianka und Diplompfleger Franz Karner das Volksbegehren „SOS Pflege“ ins Leben gerufen. Ziel ist es, eine Million Unterstützer zu gewinnen.
Katzianka, der seit seiner Geburt auf umfassende Hilfe angewiesen ist, wird seit Jahren von zwei 24-Stunden-Betreuerinnen aus der Slowakei versorgt. Für ihn ist klar: Ohne diese Unterstützung wäre ein selbstbestimmtes Leben nicht möglich. Gleichzeitig warnt er vor dem drohenden Versorgungsengpass – der derzeitige Stundenlohn von rund 3,54 Euro schrecke zunehmend qualifizierte Betreuungskräfte ab.
Mit dem Volksbegehren fordern die Initiatoren unter anderem:
Überarbeitung der Pflegegeld-Einstufungen
die Abschaffung der finanziellen Ungleichbehandlung zwischen Heim- und Hauspflege
eine automatische Zuerkennung der Schwerarbeiterpension für Pflegekräfte
eine Entbürokratisierung im Pflegewesen sowie
die Einrichtung eines eigenen Pflegestaatssekretariats.
Die Initiative richtet sich an die gesamte Bevölkerung, insbesondere auch an junge Menschen, da der Pflegebedarf weiter steigen wird. Das Volksbegehren läuft unter dem Namen „SOS Pflege“. Detaillierte Informationen erhält man unter www.europflege.at oder durch persönlichen Kontakt mit dem Initiator unter klaus@katzianka.at. Das Papier liegt bereits in allen Gemeindeämtern und Magistraten in Österreich auf. Noch einfacher geht die Unterstützungserklärung mittels ID Austria.
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