Todesflug Pan Am 103

Die letzten Rätsel des Terrorakts von Lockerbie

Ausland
20.12.2023 08:37

Am 21. Dezember 1988 stürzte ein Jumbo-Jet der ikonischen amerikanischen Fluggesellschaft Pan Am nach einer Bombenexplosion an Bord auf die schottische Kleinstadt Lockerbie. 270 Menschen verloren drei Tage vor Weihnachten auf grausame Art und Weise ihr Leben. Für diesen Terroranschlag wurde zwar ein Libyer verurteilt, doch nicht zuletzt dank der Arbeit des Tiroler Universitätsprofessors Hans Köchler, der den Prozess vor über 20 Jahren für die UNO kritisch beobachtete, gilt es heute als sehr wahrscheinlich, dass damals ein skandalöses Fehlurteil gesprochen wurde. Der oder die wahren Täter sind damit womöglich immer noch auf freiem Fuß. Zum 35. Jahrestag des Anschlages ist jetzt erstmals ein Buch auf Deutsch zu dieser Tragödie erschienen. Es trägt den Titel „Pan Am Flug 103: Die Tragödie von Lockerbie - Weihnachtsreise in den Tod“. Geschrieben hat es der österreichische Luftfahrtfotograf und Flugexperte Patrick Huber. Krone+ veröffentlicht Auszüge daraus und sprach mit dem Autor.

Die 1991 nach 64 Jahren Betrieb in die Insolvenz geschlitterte Fluggesellschaft Pan American World Airways, besser bekannt als Pan Am, galt über Jahrzehnte als Pionier des Linienflugverkehrs und als amerikanische Institution schlechthin. Ob New York, San Francisco, Tokio, Berlin, Frankfurt, Beirut, Johannesburg, Salzburg, Wien oder Sydney - die Flugzeuge mit dem markanten blau-weißen Globus und der US-Flagge auf dem Seitenleitwerk gehörten zum gewohnten Bild auf den Flughäfen in aller Welt.

Die Kehrseite der Medaille: Als markantes Aushängeschild der USA war Pan Am zugleich ein „beliebtes“ Ziel für Terroristen. Der schwerste Anschlag auf die Gesellschaft ereignete sich vor 35 Jahren, am 21. Dezember 1988, und besiegelte zugleich auch ihren Untergang.

Erfahrene Crew an Bord
An diesem Mittwochabend sollte die Boeing 747-100 mit dem Kennzeichen N739PA als Nachtkurs von London Heathrow nach New York JFK fliegen. Flugnummer: PA103. Im Cockpit saßen Kapitän James B. MacQuarrie, Spitzname Jim. MacQuarrie war ein Veteran der Lüfte, der seit 24 Jahren für Pan Am flog und 10.910 Flugstunden vorweisen konnte. Ein ehemaliger Militärpilot, geschätzt und respektiert von Freunden und Kollegen sowie beliebt beim Kabinenpersonal.

Rechts neben dem 55-jährigen Kapitän hatte Co-Pilot Raymond Wagner Platz genommen. Auch der 52-Jährige war ein Vollprofi am Steuer, immerhin flog er seit 22 Jahren für Pan Am und konnte auf 11.855 Flugstunden Erfahrung zurückblicken - sogar etwas mehr als der Kommandant. In jenen Tagen gehörte auch noch ein Flugingenieur zur Cockpitbesatzung.

Dieser dritte Mann (Frauen waren seinerzeit noch die absolute Ausnahme im Cockpit) bediente die hydraulischen, pneumatischen und elektrischen Systeme des Jumbos und war außerdem für das Treibstoffmanagement zuständig. Im Fall von PA103 hieß dieser Experte Jerry Avritt, 46 Jahre alt. Er hatte 8068 Stunden Flugerfahrung in seiner Akte stehen. Sein Arbeitsplatz war rechts hinter den beiden Piloten, wo er eine eigene Konsole bediente und seine Instrumente überwachte.

„Die Besatzungen von Pan Am gehörten zur Elite der gesamten Airlinebranche. Eine Anstellung bei dieser Gesellschaft war deshalb für viele Piloten ein Lebenstraum“, weiß Luftfahrtexperte und Buchautor Patrick Huber.

Chefsteward hatte in Österreich studiert
In der Kabine der Boeing 747 versahen 13 Stewardessen und Stewards ihren Dienst. Die beiden Chefflugbegleiter, in der Fachsprache Purser genannt, waren die 51-jährige Britin Gerry Murphy und der 35-jährige Amerikaner Milutin Velimirovich. Velimirovich war gebürtiger Tscheche, der als Kind mit seinen Eltern in die USA ausgewandert war und die US-Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Als Erwachsener übersiedelte er vorübergehend nach Österreich, wo er an der Universität Wien das Fach „Europäische Studien“ belegte. Seit zehn Jahren arbeitete er als Steward für Pan Am. In seiner Freizeit nahm Velimirovich Flugstunden für den Pilotenschein, denn sein großer Traum war es, eines Tages selbst Flugkapitän zu werden.

Nachdem die Crew an Bord des Jumbos gegangen war, boardeten am späten Nachmittag des 21. Dezember 1988 auf dem Flughafen London Heathrow insgesamt 243 Passagiere Flug PA103, darunter einige Familien mit Kindern und eine Gruppe von 35 jungen Studenten der US-Universität Syracuse.

Als die Boeing 747-100 mit dem Namen „Clipper Maid of the Seas“ (Deutsch: Clipper Meerjungfrau) um 18:04 Uhr vom Gate abdockte, befanden sich mit der Besatzung insgesamt 259 Menschen aus 21 Nationen an Bord des Flugzeuges. Unter den Passagieren waren etliche US-Soldaten (darunter auch Angehörige der Eliteeinheit „Green Berets“) und Geheimdienstmitarbeiter. Ebenfalls auf Flug PA103 gebucht: Bernt Carlsson. Der 50-jährige Schwede war der UN-Kommissar für Namibia und sollte vor der UNO-Vollversammlung in New York einem Festakt zur Unabhängigkeit Namibias beiwohnen. Er reiste auf Platz 17H in der Business-Class, die bei Pan Am „Clipper Class“ hieß. Fast 170 der mehr als 400 Plätze des Jumbos blieben an diesem Abend allerdings leer. Das war äußerst ungewöhnlich für einen Flug um die Weihnachtszeit.

Um 18:25 Uhr hob die Maschine von der Piste 27R des Londoner Flughafen Heathrow ab und stieg in den dunklen Himmel über der britischen Hauptstadt. Es war Wintersonnenwende, die längste Nacht des Jahres. Kurz darauf erfolgte eine Kursänderung nach rechts, in Richtung Norden. Die weitere Route führte die „Clipper Maid of the Seas“ zunächst nämlich in Richtung Schottland, ehe die Piloten dann nach etwa 40 bis 45 Minuten Flugzeit eine Linkskurve nach Westen fliegen sollten, um den Atlantik zu überqueren. Doch so weit kam es erst gar nicht.

Was niemand an Bord ahnte: Weil die seit einigen Jahren bereits finanziell stark angeschlagene Pan Am entgegen den internationalen Sicherheitsgepflogenheiten nicht jedes Gepäckstück einzeln kontrolliert bzw. dafür gesorgt hatte, dass kein Koffer ohne den dazugehörigen Passagier verladen wurde, war eine Bombe in den Frachtraum gelangt. Versteckt in einem Radio, der sich wiederum in einem braunen Hartschalenkoffer befand, tickte unaufhaltsam der Zünder. Ab dem Start in London hatten die 259 Menschen an Bord der „Clipper Maid of the Seas“ und elf Menschen in der schottischen Kleinstadt Lockerbie nur noch 38 Minuten zu leben.

Gegen 19 Uhr flog die „Clipper Maid of the Seas“ auf ihrer Reiseflughöhe von 31.000 Fuß (9450 Meter). Die Piloten von Flug PA103 nahmen nun Kontakt mit der zuständigen Flugsicherungsstelle auf, um die Freigabe zum Überqueren des Atlantiks einzuholen.

Drei Sekunden nach der Explosion zerbrach der Jumbo
Doch noch bevor der Fluglotse die Freigabe fertig erteilt hatte, schlug das Schicksal grausam zu. Was dann geschah, schildert der österreichische Luftfahrtexperte Patrick Huber (www.der-rasende-reporter.info) in seinem neuesten Buch „Pan Am Flug 103: Die Tragödie von Lockerbie - Weihnachtsreise in den Tod“:

„Die Bombenexplosion um 19:02:50 Uhr reißt auf der linken Rumpfseite ein (...) 50 Zentimeter großes Loch in den Frachtraum. Die Wucht der Explosion zerschmettert die Trennwand zwischen dem Frachtraum und der Electrical and electronics („E&E“) bay, wodurch in Sekundenbruchteilen elektrische Einrichtungen sowie die Navigationssysteme des Jumbos zerstört werden. Der vordere Teil der 747 gerät durch die im Inneren des Rumpfes reflektierten und dadurch verstärkten Druckwellen der Explosion in unkontrollierte Bewegungen. Heiße Gase breiten sich mit enormer Geschwindigkeit aus. Dadurch lösen sich die Aluminiumverkleidungen sowie die Verstrebungen vom unteren Rumpf, ebenso das Dach vom Oberdeck, in dem sich zehn Passagiere (...) sowie (...) ein Flugbegleiter aufhalten. Elektrische Leitungen und die Steuerkabel, die vom Cockpit zu den Rudern führen, werden zerstört. In diesen Augenblicken kommt es auch zu einem rapiden Druckverlust im gesamten Flugzeug, der dramatische Auswirkungen auf die Insassen hat. Die Luftfeuchtigkeit kondensiert. Die Kabine füllt sich mit weißem Nebel und Eiseskälte. Die meisten Insassen verlieren sofort oder nach wenigen Augenblicken, in denen sie verzweifelt um Luft geschnappt haben, das Bewusstsein. Lungen und Trommelfelle werden verletzt. Auch die Piloten und der Flugingenieur im Cockpit sind davon betroffen. Sie brechen in ihren Sitzen zusammen, schaffen es nicht einmal mehr, die Sauerstoffmasken anzulegen oder einen Notruf abzusetzen. Alle Menschen, die in diesem Augenblick ihre Gurte nicht mehr geschlossen haben (…) werden mit ungeheurer Wucht quer durch den Rumpf des auseinanderbrechenden Flugzeugs oder ins Freie geschleudert und schon dabei schwer verletzt. Nicht angeschnallte Passagiere im Oberdeck, dessen Dach (...) fehlt, katapultiert der massive Druckunterschied in Sekundenbruchteilen in den Nachthimmel und sie stürzen zu Boden. Der vordere Rumpf ist jetzt nur noch durch wenige Aluminiumbleche auf Höhe des Fensterbandes mit dem restlichen Flugzeug verbunden. Doch die Struktur hält diesen immensen Belastungen einfach nicht stand. Um 19:02:53, nur drei Sekunden nach der Explosion, bricht die Nase des Flugzeugs nach rechts hinten weg und trifft (…) Triebwerk Nummer 3, das sich unmittelbar von der Tragfläche löst. In diesem Augenblick fährt der gut -50 Grad Celsius kalte Luftstrom mit einer Geschwindigkeit von mehr als 800 Stundenkilometern völlig ungebremst in die Passagierkabine auf dem Hauptdeck und trifft die Insassen mit unbeschreiblicher Wucht. Dutzende weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder werden aus dem Rumpf geschleudert. Trolleys, Gläser oder Flaschen werden nun (…) zu tödlichen Geschossen.“

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Der Umstand, dass die beiden Piloten und der Flugingenieur im Cockpit nicht einmal mehr ihre Sauerstoffmasken anlegen konnten, zeigt, wie rasch alles ging und dass die Crew nicht den Hauch einer Chance hatte. Die Bombenexplosion selbst war dabei nicht einmal besonders stark. Kein einziger Insasse des Flugzeuges wurde durch die Detonation verletzt oder getötet, aber sie verursachte unglücklicherweise so schwere Schäden am Rumpf, dass das Flugzeug binnen drei Sekunden auseinanderbrach.

Buchautor Patrick Huber

Zur gleichen Zeit erlosch auf dem Radarschirm des Fluglotsen am Boden der Transpondercode von Pan Am 103 und statt eines grünen Punktes sah der Mann am Radar plötzlich viele einzelne Signale als die 747 in der Luft auseinanderbrach.

Dazu erneut ein Auszug aus dem Buch: „Pan Am Flug 103: Die Tragödie von Lockerbie - Weihnachtsreise in den Tod“: „Der ,geköpfte’ Rumpf mit den Tragflächen, den drei verbliebenen Triebwerken sowie dem Höhen- und dem Seitenleitwerk fliegt zunächst im Bahnneigungsflug den Umständen entsprechend aerodynamisch stabil weiter und sinkt dabei rasch. Der Fluglotse ahnt Schlimmes und versucht vergeblich, Pan Am 103 über Funk zu erreichen. Als er keine Antwort erhält, bittet er eine in der Nähe befindliche Maschine der KLM, zu versuchen, die Pan Am zu kontaktieren, doch auch hier bleibt die Rückmeldung aus. Zur gleichen Zeit sieht der British Airways Pilot
Robin Chamberlain aus seinem Cockpitfenster ,ein blitzendes oranges Licht’ am Himmel und etwa 30 Sekunden später eine ,große Explosion’ am Boden. Er meldet seine Beobachtung an die Flugsicherung. Als der Rumpf ohne den Bug eine Höhe von rund 19.000 Fuß (etwa 6000 Meter) erreicht hat, kippt er stark nach vorne und stürzt nun nahezu senkrecht in Richtung Erdboden. Als Folge des Auseinanderbrechens der Zelle stürzen immer mehr Einzelteile, das Gepäck der Passagiere, Weihnachtsgeschenke, Aktentaschen, Tickets, Reisepässe, Flugpläne, Safety Cards, Frachtcontainer und die Insassen selbst aus dem Nachthimmel zu Boden. Manchen Passagieren reißt der Fahrtwind im freien Fall fast die gesamte Kleidung vom Leib, wieder andere sind furchtbar entstellt. Manche hängen während des tiefen Falls angeschnallt in ihren Sitzen. Etwa 150 dieser Unglücklichen erlangen wohl das Bewusstsein wieder, als sie während des Absturzes dichtere Luftschichten erreichen. So wird es der Pathologe William G. Eckert später gegenüber der schottischen Polizei aussagen. Die Opfer umarmen sich teilweise während sie in absoluter Dunkelheit zu Boden fallen (…). Einige der Todgeweihten halten Kruzifixe in den Händen und beten wohl in ihren letzten schrecklichen Sekunden. Eine Mutter umklammert ihr Baby und wird es bis zum tödlichen Aufprall nicht mehr loslassen. Die Opfer werden über eine große Fläche verstreut. Zahlreiche Menschen stürzen auf ein Feld neben dem Golfclub von Lockerbie.“

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Besonders tragisch: Zwei Passagiere des Pan-Am-Fluges 103 überlebten den Absturz zunächst nur leicht verletzt. Das hat der Gerichtsmediziner Professor Anthony Busuttil bei der Untersuchung der Leichen festgestellt. Ein Mann hatte demnach lediglich ein gebrochenes Bein und eine Frau ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma und Knochenbrüche. Leider fand man diese zwei Opfer aber erst nach einigen Tagen. Sie hingen in ihren Sitzen in einem Baum und dürften nach dem Absturz hilflos erfroren sein. Auch eine Flugbegleiterin der Ersten Klasse hatte unmittelbar nach dem Absturz noch Puls, als man sie fand. Die Frau verstarb jedoch, bevor sie ins Krankenhaus eingeliefert werden konnte.

Buchautor Patrick Huber

Menschen am Boden starben im Flammeninferno
Der Rumpfmittelteil des Jumbos mit den Tanks und den Tragflächen stürzte mitten in den Stadtteil Sherwood Crescent. Beim Aufprall explodierten fast 100.000 Kilogramm Kerosin und verwandelten das Viertel binnen weniger Sekunden in ein tödliches Flammenmeer. Elf Einwohner von Lockerbie, darunter eine ganze Familie und mehrere Kinder, starben. Die Löscharbeiten dauerten die ganze Nacht.

Erst am nächsten Morgen wurde das ganze Ausmaß der Tragödie sichtbar. Flugzeugtrümmer, Gepäck und Leichen waren über eine Fläche verteilt, die größer war als die britische Hauptstadt London!

Trotzdem fanden die Unfallermittler recht rasch Wrackteile mit Sprengstoffresten. Damit war klar: Pan Am 103 war einem Terroranschlag zum Opfer gefallen.

Die große Frage lautete nun: Wer war dafür verantwortlich? Der Iran, worauf zahlreiche Indizien hindeuteten, und der als Hauptverdächtiger gilt? Immerhin hatte das Regime der Mullahs blutige Rache für den versehentlichen Abschuss einer iranischen Passagiermaschine (290 Todesopfer) durch das US-Kriegsschiff „USS Vincennes“ im Sommer 1988 - ein halbes Jahr vor dem Anschlag auf den Pan-Am-Jumbo - geschworen. Die Palästinenser? Oder Syrien?

Ein durchaus wahrscheinliches Szenario war auch ein mögliches „Terror-Joint-Venture“ des Iran und der palästinensischen Terrororganisation PFLP-GC. Erst wenige Wochen vor dem Anschlag auf Pan Am 103 hatte die deutsche Polizei nach einem Tipp des Mossad eine Bombenwerkstatt der PFLP-GC in der Bundesrepublik Deutschland ausgehoben. Vier in Radios versteckte Bomben waren damals beschlagnahmt worden, eine fünfte galt als verschollen und tauchte nie wieder auf.

Fragwürdiger Gerichtsprozess
Doch gegen Ende des Jahres 1990 - die USA und Großbritannien schmiedeten gerade ihre Koalition gegen Saddam Hussein und benötigten daher einen sich während des Angriffs auf den Irak im Jänner 1991 neutral verhaltenden Iran - wurden die Spuren in den Iran von heute auf morgen plötzlich nicht mehr weiterverfolgt. Stattdessen präsentierten das FBI und die britischen Behörden nun zwei Verdächtige aus Libyen: Abdel Basit Ali al-Megrahi, angeblich Mitarbeiter des libyschen Geheimdienstes und Sicherheitschef der Libyan Arab Airlines auf Malta, und Lamin Khalifah Fhimah, der Stationmanager von Libyan Arab Airlines auf der Mittelmeerinsel. Die beiden Männer sollten den Anschlag im Auftrag des libyschen Diktators Muammar Gaddafi ausgeführt haben. Gaddafi habe das Attentat als Rache für den Angriff von US-Kampfjets auf Libyen im Jahr 1986 befohlen, hieß es.

Die Theorie der Ermittler war, dass die zwei Attentäter den Koffer mit der Bombe an Bord eines Air Malta Fluges von Malta nach Frankfurt geschmuggelt hätten. Dort sei das Gepäckstück dann in eine Pan-Am-Maschine nach London umgeladen worden und danach schließlich im Frachtraum der Pan Am 747 nach New York gelandet. Al-Megrahi habe zudem in einem Geschäft auf Malta zuvor jene Kleidungsstücke gekauft, die sich in dem Koffer mit der Bombe befunden hatten.

Angeblicher Täter nie wirklich identifiziert
Dieses ganze Anklagekonstrukt hatte allerdings einen riesengroßen Haken: Der wichtigste Belastungszeuge der Staatsanwaltschaft, der maltesische Ladenbesitzer Tony Gauci, hatte den Hauptangeklagten Al-Megrahi auf Fotos zu keinem Zeitpunkt zweifelsfrei identifiziert, aber dennoch von den USA eine Belohnung in Höhe von kolportierten zwei Millionen Dollar bekommen - krone.at berichtete. Zudem stellte das deutsche Bundeskriminalamt klar, dass es überhaupt keinen Beweis dafür gab, dass die Bombe jemals über Frankfurt nach London gelangt sei. Womit die ganze Theorie der Anklage ziemlich substanzlos war, wie es selbst der schottische Rechtsprofessor Robert Black formulierte, der an den Prozessvorbereitungen beteiligt war.

Black hatte deshalb noch vor Prozessbeginn von dem Verfahren abgeraten, da „die Beweise zu dünn“ und die Zeugen der Anklage „fragwürdig“ seien. Wäre er, Professor Black, der verantwortliche Staatsanwalt gewesen, so hätte er die Akte mit dem Vermerk „kein Strafvollzug möglich“ versehen, sagte er im August 2009 in einem Interview mit dem deutschen „Tagesspiegel“.

Beide Verdächtigen bestritten jede Schuld, und Libyen verweigerte zunächst die Auslieferung seiner Staatsbürger an Großbritannien oder die USA. Daraufhin wurden Anfang der 1990er-Jahre UN-Sanktionen gegen das Land erlassen, um Libyen zur Kooperation zu zwingen. 1999 war Libyen unter dem Druck der internationalen Sanktionen schließlich bereit, Al-Megrahi und Fhimah an Großbritannien auszuliefern, sofern der Prozess an einem neutralen Ort stattfand. Und so wurde ab April 2000 vor schottischen Richtern nach schottischem Recht in den Niederlanden verhandelt. Die beiden Angeklagten plädierten zum Prozessauftakt auf „nicht schuldig“. Am 31. Jänner 2001 verkündeten die Richter schließlich die Urteile: Freispruch für Lamin Khalifah Fhimah und lebenslange Haft in Schottland für Abdel Basit Ali al-Megrahi.

Scharfe Kritik an Urteil von Experten
Der österreichische UN-Prozessbeobachter, der Innsbrucker Universitätsprofessor Hans Köchler, kritisierte das Urteil schon kurz danach scharf und legte das auch in seinem Bericht an die UNO dar: „Zunächst einmal veranlasste mich dazu die widersprüchliche Argumentation in der Urteilsbegründung. Das (...) Urteil wurde im Januar 2001 verlautbart und das beruhte auf einer Anklage gegen zwei libysche Geheimdienstagenten. Die Logik der Anklage basierte darauf, dass man zu erklären suchte, wie diese beiden Libyer die (...) Bombe in einem Koffer in Malta platziert hatten und diesen Koffer in ein Flugzeug nach Frankfurt verfrachtet hatten. Im Zuge des Prozesses wurde dann aber festgehalten, dass einer der beiden Libyer nichts mit der Angelegenheit zu tun habe. Dieser wurde auch freigesprochen. Insofern war das Ganze nicht logisch, man konnte auch niemanden davon überzeugen, dass lediglich einer der beiden Libyer schuldig sein soll, wenn alles davon abhing zu zeigen, wie diese beiden zusammengearbeitet hatten, um eine Bombe in ein Flugzeug zu verfrachten.“

Anschlag für Einzeltäter „unmöglich“
Köchler machte außerdem unmissverständlich klar, dass der verurteilte Al-Megrahi den Anschlag gar nicht alleine durchführen hätte können: „Ein Einzeltäter hätte diesen Anschlag nicht ausführen können. Das habe ich auch 2001 schon gesagt, dass das völlig absurd ist. Für so einen Anschlag braucht es mindestens ein Dutzend Leute. Das muss angeordnet werden, man braucht eine Riesen-Logistik. Und man brauchte (wegen des Zeitzünders der Bombe, Anmerkung) die absolute Gewissheit, dass das Gepäck umgeladen wird und die Flugzeuge rechtzeitig abheben. Das ist einfach nicht stichhaltig. Wenn dieses Urteil jemand bei mir als Seminararbeit eingereicht hätte, dann wäre das ein Nichtgenügend gewesen, wegen Inkonsistenz des ganzen Argumentes.“

Trotzdem kam der verurteilte Libyer Al-Megrahi in Haft, eine erste Berufung wurde abgewiesen. Libyen selbst kaufte sich 2002/03 gewissermaßen von den UN-Sanktionen frei, indem es den Hinterbliebenen der Lockerbie-Opfer 2,7 Milliarden Dollar Entschädigung zahlte - ohne jedoch einzugestehen, als Staat für den Anschlag verantwortlich zu sein.

Kommission sah möglichen Justizirrtum
Rund sechseinhalb Jahre nach dem Schuldspruch von Al-Megrahi, am 28. Juni 2007, erklärte dann sogar eine schottische Kommission zur Überprüfung von Strafurteilen, dass die Verurteilung Al-Megrahis möglicherweise ein Justizirrtum gewesen sei. Davon gehen mittlerweile die meisten Experten aus, auch Buchautor Patrick Huber: „Nach 15-jähriger Recherche in diesem Fall bin ich ebenfalls überzeugt, dass Al-Megrahi zu Unrecht verurteilt wurde. Er wurde niemals als Käufer der Kleidung aus dem Bombenkoffer identifiziert und es gab auch keinerlei Beweis, dass dieser Koffer überhaupt jemals aus Malta über Frankfurt nach London gelangt ist. Schon der Umstand, dass es angesichts dieser Faktenlage überhaupt zur Anklage gekommen war, mutet durchaus skandalös an.“ Und mit dieser Sichtweise ist Huber bei Weitem nicht alleine. Selbst zahlreiche Angehörige von Opfern, wie der britische Arzt Dr. Jim Swire, dessen Tochter Flora einen Tag vor ihrem 24. Geburtstag an Bord von Pan Am 103 starb, und einige Polizisten sind sich sicher, dass der Libyer Al-Megrahi nur ein „politisches Bauernopfer“ war. Ein ehemaliger schottischer Polizist sprach davon, dass es im Rahmen der Ermittlungen sogar „Beweismittelfälschungen“ gegeben habe, um die Spur der Bombe „gezielt in Richtung Libyen“ zu lenken.

Die schottische Kommission, die das Urteil überprüft hatte, billigte Al-Megrahi daher 2007 die Einbringung neuer Rechtsmittel zu, was dieser über seine Verteidiger umgehend tat. Im Jahr 2008 wurde bei ihm dann jedoch völlig überraschend Krebs im Endstadium diagnostiziert. Man bot dem geschockten Al-Megrahi eine Entlassung aus „humanitären Gründen“ an, allerdings nur, wenn er seine mittlerweile eingebrachte erneute Berufung zurückziehen würde - was der Libyer machte. Im Sommer 2009 wurde der bereits schwer von seiner Krankheit gezeichnete fünffache Vater tatsächlich aus dem Gefängnis in Schottland entlassen und konnte zu seiner Familie nach Libyen heimkehren. Später stellte sich übrigens heraus, dass wohl weniger „humanitäre Gründe“ als vielmehr handfeste Geschäftsinteressen eines britischen Erdölkonzerns zu der Entlassung geführt haben dürften. Das Unternehmen erhielt nämlich zeitnah nach der Freilassung Al-Megrahis den begehrten Zugang zu großen Ölvorkommen vor der libyschen Küste.

Al-Megrahi starb knapp drei Jahre nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, am 20. Mai 2012, in seiner Heimat inmitten der Wirren des libyschen Bürgerkrieges an seiner Krebserkrankung - nicht ohne zuvor noch auf dem Sterbebett seine Unschuld beteuert zu haben. Juristisch wurde er allerdings bis heute nicht rehabilitiert.

Viele Fragen weiter offen
Buchautor Patrick Huber: „Die Hintergründe des Terroranschlages von Lockerbie muten in vielerlei Hinsicht sehr undurchsichtig an. Dass fast 170 Plätze auf diesem Flug leer waren, zeigt meines Erachtens sehr deutlich, dass viele Menschen von einer Bedrohung gewusst haben dürften und deshalb nicht mit Pan Am 103 flogen. Es gab im Vorfeld zahlreiche teilweise recht konkrete Anschlagswarnungen gegen Pan Am, die von den US-Stellen durchaus ernst genommen und an einen ausgewählten Personenkreis weitergeleitet worden waren. Üblicherweise waren und sind Transatlantikflüge um die Weihnachtszeit nämlich nicht nur ausgebucht, sondern sogar überbucht.“

Und tatsächlich: Zahlreiche hochrangige Politiker, Geheimdienstmitarbeiter oder Militärs stornierten Flug PA103 oder buchten ihn kurzfristig um, darunter der damalige südafrikanische Außenminister Pik Botha und seine 22-köpfige Delegation, die zur gleichen Feier der UNO wie der an Bord von Pan Am 103 getötete Bernt Carlsson fliegen sollten. Später sagte Botha gegenüber britischen Medien, dass er wegen einer „glaubhaften Warnung“ umgebucht habe, verneinte jedoch, gewusst zu haben, dass sich tatsächlich eine Bombe an Bord des Pan Am Jumbos befand. Diese „glaubhafte Warnung“ dürfte vom südafrikanischen Geheimdienst gekommen sein, der in jenen Tagen beste Beziehungen zur amerikanischen CIA und zum israelischen Mossad unterhielt.

Kim Cattrall hätte im Flugzeug sitzen sollen
Es gab aber auch einige Passagiere, die einfach Glück hatten und den Flug schlichtweg verpassten - so wie die bekannte kanadisch-britische Schauspielerin Kim Cattrall („Police Academy“, „Die Rückkehr der Musketiere“, „Sex and the City“). „Sie trat den Flug nicht an, weil sie sich spontan entschloss, im Kaufhaus ,Harrods’ in London noch eine Teekanne für ihre Mutter zu kaufen. Man kann also sagen, dass sie ihr Leben einer Teekanne verdankt“, weiß Huber, der für sein Buch über die Katastrophe von Lockerbie zahlreiche bewegende Einzelschicksale von Opfern und weiteren Protagonisten dieser Causa bis ins kleinste Detail recherchiert hat.

Übrigens: Gleich nach dem Anschlag hatten sich mehrere Organisationen zu der Terrorattacke bekannt. In einer Analyse vom 22. Dezember - einen Tag nach dem Absturz - stufte die CIA den Bekenneranruf der „Beschützer der islamischen Revolution“ als „am glaubwürdigsten“ ein. Diese Organisation galt als dem Iran nahestehend. Der Überläufer Abolgaschem Mesbahi, ein ehemaliger iranischer Geheimdienstmitarbeiter, bestätigte Jahre später öffentlich, dass der Iran hinter dem Anschlag steckte. „Das Attentat war durch Ayatollah Khomeini genehmigt“, erklärte Mesbahi etwa in der TV-Dokumentation „Der Anschlag von Lockerbie“.

„Die Wahrheit ist gut versteckt“
Und auch wenn die USA vor rund einem Jahr einen weiteren Verdächtigen, den angeblichen Bombenbauer (wieder ein Libyer), präsentierten, so ist das Rätsel, wer Pan Am 103 am 21. Dezember 1988 tatsächlich zum Absturz gebracht hat, auch 35 Jahre später weit davon entfernt, gelöst zu sein.

„Ich denke, dass die Wahrheit gut versteckt ist. Es scheint mir ziemlich klar, dass es irgendwo jemanden gibt, der nicht will, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Es wurden große Anstrengungen unternommen, um die Wahrheit zu verschleiern und sie auf verschiedene Weise zu verbergen. Deshalb bezweifle ich, dass die Wahrheit ans Licht kommen wird, zumindest zu meinen Lebzeiten“, sagte der britische Reverend John Mosey noch Ende 2022. Er verlor beim Absturz seine 19-jährige Tochter Helga und ist, wie so viele Angehörige, überzeugt, dass der einzige Mann, der jemals für das Attentat verurteilt wurde, unschuldig ist und nur aus reinem Pech zwischen die Mühlsteine der großen Weltpolitik geraten ist.

An die 270 Toten dieser Tragödie - sie ist übrigens bis in die Gegenwart der schwerste Terroranschlag auf britischem Boden und zugleich das folgenreichste Flugzeugunglück Großbritanniens - erinnern heute mehrere Gedenkstätten in Großbritannien und den USA. Die größten und bekanntesten sind der „Garden of Remembrance“ in Lockerbie selbst und das „Pan Am Flight 103 Memorial“ auf dem US-Nationalfriedhof Arlington.

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