Butscha-Tote obduziert

Zivilisten starben durch Granaten voller Nägel

Ausland
25.04.2022 11:53

Einige Wochen nach dem Abzug russischer Soldaten aus dem Kiewer Vorort Butscha, in dem Massengräber voll getöteter Zivilisten entdeckt worden waren, haben Forensiker die Obduktion der Toten abgeschlossen. Die Leichen verraten viel über das Vorgehen der russischen Invasoren: In zahlreichen Körpern wurden sogenannte Flechettes gefunden - nagelähnliche Metallstifte, die in russischen Artilleriegranaten enthalten sind, bei der Detonation in alle Richtungen wegfliegen und schwerste Verletzungen hervorrufen.

Das berichtet der britische „Guardian“ unter Berufung auf ukrainische und französische Forensiker. Vladyslav Pirovskyi, ukrainischer Gerichtsmediziner, berichtet nach der Obduktion der Toten von Butscha: „Ich und meine Kollegen in der Region haben einige dünne nagelähnliche Objekte in den Körpern der Männer und Frauen gefunden.“

Von Experten als Flechettes identifiziert
Die Metallpartikel seien von unabhängigen Experten als Flechettes identifiziert worden - Metallstifte, die Helme und Schutzwesten durchdringen sollen und sich im Körper der Getroffenen mitunter so verformen, dass sie wie ein Angelhaken im Fleisch stecken bleiben. Die Munitionsart wurde im Ersten Weltkrieg intensiv eingesetzt, vor einigen Jahrzehnten kam sie durch US-amerikanische Truppen auch in Vietnam zum Einsatz.

Die Metallstifte, die in den Toten gefunden wurden, dürften in russischen Panzer- und Artilleriegranaten enthalten gewesen sein. Granaten mit Flechette-Munition darin sind mitunter so konzipiert, dass sie einige Meter über dem Boden explodieren, um ihre tödliche Fracht möglichst weit zu verteilen. Bis zu 8000 drei bis vier Zentimeter lange Nägel, die bei der Explosion als tödliche Geschosse durch die Luft fliegen, sind enthalten.

Der britische Rüstungsexperte Neil Gibson geht davon aus, dass die russischen Besatzer mit Flechettes gefüllte 122-Millimeter-Artilleriemunition eingesetzt haben. „Ein weiteres ungewöhnliches und selten gesichtetes Projektil“, schreibt er auf Twitter. Augenzeugen zufolge sollen die russischen Besatzer die Munition nur wenige Tage vor ihrem Abzug in Butscha zum Einsatz gebracht haben. Eine Bewohnerin des verwüsteten Kiewer Vorortes berichtet im Gespräch mit der „Washington Post“, dass etliche Nagelgeschosse in der Karosserie ihres Autos steckten.

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Flechettes sind eine Anti-Personen-Waffe, die dafür geschaffen wurde, dichte Vegetation zu durchdringen und große Mengen feindlicher Soldaten zu treffen.

Amnesty International

Ein Sprecher von Amnesty International sagt über diesen Munitionstyp: „Flechettes sind eine Anti-Personen-Waffe, die dafür geschaffen wurde, dichte Vegetation zu durchdringen und große Mengen feindlicher Soldaten zu treffen.“ So wurden etwa im Vietnamkrieg von US-Soldaten mit Flechette-Munition bestückte Schrotflinten im Dschungelkampf eingesetzt. „Sie sollten aber nie in bebautem zivilen Gebiet zum Einsatz kommen“, so die NGO.

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Butscha wurde in eine Tschetschenen-Safari verwandelt, bei der sie Landminen gegen Zivilisten eingesetzt haben.

Anatoliy Fedoruk, Bürgermeister von Butscha

Für Anatoliy Fedoruk, den Bürgermeister von Butscha, ist der Einsatz gegen Zivilisten jedenfalls ein Kriegsverbrechen. „Man muss kein Waffenexperte sein, um zu begreifen, dass Russland in Butscha die Regeln der Kriegsführung gebrochen hat. Butscha wurde in eine Tschetschenen-Safari verwandelt, bei der sie Landminen gegen Zivilisten eingesetzt haben.“

Nach russischem Abzug wurden Massengräber entdeckt
Die Gräueltaten von Butscha wurden Ende März entdeckt, nachdem sich die dort stationierten russischen Truppen zurückzogen, um sich für eine Offensive auf den Osten der Ukraine neu zu gruppieren.

Den Ukrainern bot sich ein schreckliches Bild: Auf den Straßen lagen getötete Zivilisten mit gefesselten Händen, es wurden Massengräber mit Hunderten Toten gefunden. Gerichtsmediziner aus der Ukraine und Experten der französischen Gendarmerie begannen in den folgenden Tagen mit der Untersuchung der Leichen. Ihre Erkenntnisse sind erschütternd.

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Wir sehen viele verstümmelte oder entstellte Körper. Vielen von ihnen wurden die Hände hinter dem Rücken gefesselt und sie hatten Einschusswunden im Hinterkopf.

Forensiker Vladyslav Pirovskyi

Forensiker Pirovskyi: „Wir sehen viele verstümmelte oder entstellte Körper. Vielen von ihnen wurden die Hände hinter dem Rücken gefesselt und sie hatten Einschusswunden im Hinterkopf. Es gab auch Fälle mit automatischen Waffen, die Opfer hatten sechs bis acht Löcher im Rücken. Und wir haben mehrere Fälle mit Partikeln aus Streumunition, die in die Körper der Opfer eingedrungen sind.“

Der Einsatz von Streumunition durch die russischen Invasoren dürfte sich nicht auf Butscha beschränkt haben: Nachweise, dass Putins Truppen schwere Bomben und Streumunition in bewohntem Gebiet eingesetzt haben, gibt es laut „Guardian“ auch aus anderen Teilen der Ukraine.

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