"Kaltblütiger Mord"

“Kill Mission” Bin Laden wird erneut umgeschrieben

Ausland
06.05.2011 07:27
Das Gezerre um die wahren Umstände der "Kill Mission" gegen Osama bin Laden geht weiter. Aus dem politisch bedrängten Pakistan, wo sich der Al-Kaida-Chef unerkannt aufgehalten hat, drangen am Donnerstag Stimmen anonymer Sicherheitskräfte, die der Kritik der USA mit Gegendarstellungen des Einsatzes begegnen. Demnach sei ein unbewaffneter und wehrloser Bin Laden "kaltblütig umgebracht" worden. Auch die "New York Times" schreibt mittlerweile von einem "extrem einseitigen Gefecht". Die US-Regierung schaltet - zumindest offiziell - auf stumm.

Nach mehrmaligen Änderungen an der offiziellen Version zur Tötung von Osama bin Laden will man vorerst keine weiteren Einzelheiten bekanntgeben. "Wir sind noch immer dabei, alle Fakten zu dieser Operation zu sammeln", sagte Barack Obamas Sprecher Jay Carney am Donnerstag vor Journalisten auf dem Flug des Präsidenten nach New York. Zuvor hatte sich bereits US-Außenministerin Hillary Clinton am Rande eines Außenministertreffens in Rom geweigert, weitere Einzelheiten über den Einsatz bekannt zu geben.

Das Weiße Haus habe den Ablauf des Einsatzes dargestellt und werde keine weiteren Angaben machen. Eine Gruppe "außergewöhnlicher" US-Soldaten sei in der Nacht in ein fremdes Land geflogen, habe "einwandfrei" die Mission ausgeführt und ein Ziel erreicht, nach dem die USA seit zehn Jahren gestrebt hätten, sagte Carney. Das sei der "übergeordnete Punkt".

Pakistans Armee überrumpelt
Am Donnerstag hat auch das offizielle Pakistan erstmals eine eigene Version der Vorgänge um die Tötung von Bin Laden dargelegt. Demnach bemerkten die Behörden die US-Hubschrauber zunächst nicht, die in der Nacht zu Montag zum Anwesen des Terrorchefs flogen, wie der Staatssekretär im pakistanischen Außenministerium, Salman Bashir, sagte. Erst als einer der Helikopter bei dem Anwesen in Abbottabad abstürzte, sei Verdacht aufgekommen.

Die US-Hubschrauber waren Bashir zufolge in niedriger Höhe geflogen, um dem pakistanischen Radar zu entgehen. Als eines der Fluggeräte abstürzte, habe Pakistan nach fünf bis zehn Minuten bestätigen können, dass es sich um einen ausländischen Hubschrauber handelte, insbesondere weil pakistanische Hubschrauber nur tagsüber flögen.

Die pakistanische Luftwaffe sei dann mit zwei Maschinen zum Haus Bin Ladens geflogen und 15 Minuten später dort eingetroffen, sagte Bashir. Zu diesem Zeitpunkt habe das US-Einsatzkommando den Ort bereits verlassen gehabt. Die pakistanische Soldaten hätten im Haus die Familie Bin Ladens vorgefunden, die angegeben habe, dass er erschossen und seine Leiche fortgebracht worden sei. Ein Geheimdienstbeamter hatte am Mittwoch erklärt, eine zwölfjährige Tochter Bin Ladens habe den Behörden als erste vom Tod ihres Vaters berichtet.

"Es gab keinen Widerstand"
Zuvor hatten zwei Vertreter pakistanischer Sicherheitsbehörden der Agentur Reuters erklärt, das auf Osama bin Laden angesetzte US-Kommando der Eliteeinheit Navy Seals habe den unbewaffneten Al-Kaida-Chef und vier seiner Vertrauten kaltblütig erschossen. "Die Bewohner des Hauses waren unbewaffnet. Es gab keinen Widerstand", heißt es. Damit widersprechen sie der aktuell gültigen, offiziellen US-Darstellung, mehrere Bewohner der Anlage seien bewaffnet gewesen und hätten das Feuer auf die Spezialeinheit eröffnet.

Die zwei pakistanischen Quellen, die nach eigenen Angaben das Geschehen in dem Anwesen in der Nacht auf Montag untersuchen, behaupten, es habe gar kein Feuergefecht gegeben. Die Bewohner seien "kaltblütig umgebracht" worden. Beide Männer wollten aber nicht sagen, wie sie zu diesen Erkenntnissen gekommen sind. Von Reuters erworbene Fotografien aus dem Gebäude zeigten am Donnerstag Nahaufnahmen von drei getöteten Männern in Blutlachen. Waffen sind nicht zu erkennen. Die Aufnahmen wurden von einem Mitglied pakistanischer Sicherheitskräfte kurz nach Ende des US-Einsatzes gemacht und an Reuters verkauft.

Anonyme Quellen in den USA: Nur Kurier hatte Waffe
Die US-Regierung hat ihre Darstellung des Einsatzes seit Montag mehrfach geändert. Ursprünglich hatten Sprecher der US-Regierung erklärt, Bin Laden sei bewaffnet gewesen und es habe ein 40-minütiges Gefecht gegeben. Später räumte der Sprecher des Präsidialamtes ein, der Al-Kaida-Chef sei unbewaffnet gewesen, habe sich aber gewehrt.

Auch habe er seine Ehefrau nicht als menschlichen Schutzschild missbraucht, vielmehr habe sie sich auf die Soldaten gestürzt. Dabei sei sie angeschossen, aber nicht getötet worden, wie es ursprünglich hieß. Unklar bleibt auch der Tod eines erwachsenen Sohnes Bin Ladens, der nicht in allen Versionen bestätigt wird.

NYT: "Extrem einseitiges Gefecht"
Die US-Agentur AP berichtete am Donnerstag nun unter Berufung auf anonyme Mitarbeiter der Regierung, dass vier der fünf Getöteten unbewaffnet gewesen seien. Auch die "New York Times" schreibt in ihrer neuesten Schilderung der Ereignisse von einem "extrem einseitigen Gefecht": Nur der Kurier des Al-Kaida-Chefs habe nach der Ankunft der Soldaten, die mit extrem geräuscharmen und bisher geheimen Tarnkappen-Helikoptern gelandet sein sollen, aus dem Haus heraus gefeuert. Nachdem die Spezialkräfte den Mann getötet hatten - und im Zuge des Gefechts auch eine unbewaffnete Person neben dem Mann zu Tode kam -, "wurde nicht mehr auf die Amerikaner geschossen".

Die anonyme Regierungsquelle der AP beschrieb den Einsatz nicht mehr als wilde Erstürmung. Vielmehr hätten sich die Seals systematisch von Raum zu Raum vorgearbeitet - was auch besser zu den Aussagen von CIA-Chef Leon Panetta passt, demzufolge die Seals den Einsatz wochenlang in einem nachgebauten Bin-Laden-Haus übten. Dass der Einsatz 40 Minuten gedauert hat, wird bestätigt, allerdings sei der Großteil für Durchsuchungen aufgewendet worden - USB-Sticks, DVDs und CD-Roms sowie fünf Computerfestplatten wurden gefunden -, nicht für Feuergefechte.

Auf "feindseligem Territorium" wird schnell geschossen
Die Quelle, auf die sich die "New York Times" beruft, rechtfertigte das "einseitige Gefecht" teilweise damit, dass sich die Seals in einem "extrem feindseligen Territorium" befunden hätten und bei der Durchsuchung des Gebäudes annehmen mussten, jederzeit auf Bewaffnete oder Sprengfallen zu stoßen. Gemäß den "Rules of Engagement" für den Einsatz hatten die Seals weitreichende Tötungsbefugnisse gehabt, als zu verschonen galt nur, wer sich mit erhobenen Händen ergab. Das habe aber keine der Personen getan. Zumindest ein weiterer Gefolgsmann Bin Ladens sei während der Durchsuchung des Gebäudes erschossen worden, weil seine Bewegungen vermuten ließen, er wolle eine Waffe ziehen.

Bin Ladens Bruder Khalid sei im Stiegenhaus beim Versuch, sich auf die Soldaten zu stürzen, getötet worden. Im Zimmer im oberen Stockwerk, in dem die Seals schließlich auf den Terrorpaten in Gegenwart einer Frau und möglicherweise mehrerer Kinder stießen, habe sich ein AK-47-Sturmgewehr und eine Pistole "in Griffweite" Bin Ladens befunden. Ob der Al-Kaida-Anführer dort nun "kaltblütig umgebracht" oder beim Versuch, nach einer der Waffen zu greifen, getötet wurde, vermochte die Quelle der "Times" offenbar nicht zu sagen. Die Frau, die mit Bin Laden im Raum war, wurde angeschossen, als sie auf die Soldaten zugestürmte. Dass zwischen den Soldaten und Bin Laden Worte fielen, sei laut der "NYT"-Quelle unwahrscheinlich. Vielmehr sei alles in Sekunden passiert.

Überlebende Frauen und Kinder im Garten gefesselt
Den neuesten Darstellungen vom Donnerstag zufolge wurden bei dem Einsatz weiterhin inklusive Bin Laden fünf Menschen getötet, so wie offiziell verlautbart. Die Angaben gehen allein dabei auseinander, ob die mit dem bewaffneten Kurier erschossene Person eine Frau oder ein weiterer Mann war. Wie viele Personen sich zum Zeitpunkt des Einsatzes auf dem Anwesen befunden haben, ist indes noch nicht definitiv klar. Den Angaben zufolge sind es 17 bis 19 Personen gewesen, wobei drei Viertel der Anwesenden Frauen und Kinder vom Babyalter bis 12 Jahre gewesen seien.

Während die Anlage durchsucht wurde, sollen die Überlebenden im Garten zusammengetrieben und mit Kabelbindern gefesselt worden sein, um sie für die pakistanischen Sicherheitskräfte "auffindbar" zu machen. Der zu Beginn der Operation wegen eines technischen Defektes notgelandete Hubschrauber wurde derweil mit Sprengstoff und Ten. Die Vernichtung erfolgte allerdings nicht komplett, wie nach dem Einsatz aufgenommene Bilder der pakistanischen Behörden zeigten.

Pakistan droht USA mit "Überdenken" der Kooperation
Die Regierung Pakistans erklärte am Donnerstag, man werde die Zusammenarbeit mit den USA im Antiterror-Kampf überdenken, sollte es noch einmal zu einem Kommando-Einsatz auf ihrem Hoheitsgebiet kommen. Gleichzeitig gestand die Regierung aber auch einen gewissen Erklärungsbedarf in Bezug auf den Aufenthaltsort Bin Ladens ein. Die pakistanische Armee versprach, es würden Untersuchungen eingeleitet, warum dem als extrem mächtig geltenden Geheimdienst der jahrelange Aufenthalt des meistgesuchten Mannes der Welt in Pakistan verborgen blieb.

In Pakistan rief am Donnerstag die einflussreiche muslimische Partei Jamaat-e-Islami für Freitag zu Massenkundgebungen auf, um gegen die Zusammenarbeit der Regierung mit den USA im Kampf gegen gewaltbereite Extremisten zu protestieren. Die USA hätten mit ihrer Kommandoaktion die pakistanische Souveränität und Unabhängigkeit verletzt. Obwohl antiamerikanische Ressentiments in Pakistan verbreitet sind, rechnet man aber nicht mit großen Zulauf, da die von Al-Kaida propagierte radikale Form des Islam nicht populär sei.

US-Medien unzufrieden mit Informationspolitik
Aber auch der Ton, der der US-Regierung aus amerikanischen Medien entgegenschallt, wird zunehmend rauer. Die Obama-Administration habe sich bisher "in einigen der provokantesten Details" ihrer bisherigen Darstellung der Ereignisse korrigiert, schrieb am Donnerstag die "Washington Post": Denn weder sei Bin Laden wie zunächst behauptet "während eines Feuergefechts" getötet worden, noch habe er eine seiner Ehefrauen als menschliches Schutzschild benutzt (was die pakistanischen Quellen ebenfalls bekräftigten).

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