Schlachtfeld Libanon

Die „Schweiz des Nahen Ostens“ schafft sich ab

Ausland
16.01.2022 10:30

Die Trümmer rosten still vor sich hin als Mahnmal libanesischen Versagens. Vor knapp zwei Jahren war der Hafen der libanesischen Hauptstadt in Erdbebenstärke explodiert - als Folge unsachgemäßer Lagerung von Tonnen Ammoniumnitrats. Alle dachten, die verheerende Katastrophe - große Teile der Stadt demoliert und ohne Fenster - wäre der Weckruf gewesen, also ein Wendepunkt in dem verfilzten Kartell von Politik und Mafia. Weit gefehlt! Bis heute streitet die Führung des Landes über Mitschuld: Ein Staat, eine selbstsüchtige, streitsüchtige politische Klasse, in kollektiver Verantwortungslosigkeit.

Alle schauen weg von den sich auftürmenden Problemen. Unlängst fiel schon einen ganzen Tag der Strom aus: Die Diesel-Mafia und ihre politischen Hintermänner hatten den Treibstoff für die E-Werke zurückgehalten. Jetzt kündigt sich die nächste Explosion an - die soziale Katastrophe durch Massenverarmung; verschärft durch 1,4 Millionen syrische Flüchtlinge (20% in einem Land kleiner als Tirol) und 400.000 palästinensische Flüchtlingsnachkommen. In den letzten drei Jahren sind 200.000 Christen ausgewandert.

Ein Staat im Koma, die Wirtschaft ist tot. Die Währung stürzt in einer Hyperinflation ab. Der Dollar, der am Morgen 30.400 libanesische Pfund kostete, stieg bis zum Abend auf 31.000 Pfund.

Gespenstisches Absurdistan
Die „Schweiz des Nahen Ostens“ wurde zu einem gespenstischen Absurdistan. Das Land stürzt ab, und die dafür verantwortlichen verfeindeten polit-konfessionellen Machtblöcke schieben sich gegenseitig die Schuld zu und verhindern jegliche Lösungsansätze.

Jede Gruppe schielt auf ihre Unterstützer im Ausland. So wurde der Libanon ein Schlachtfeld der Interessen zwischen Saudi-Arabien und Iran. Ohne den aus Teheran unterstützten Block der Schiiten geht heute gar nichts mehr im Libanon. Die Folge: Totalblockade der verfeindeten Lager und ihrer mafiösen Strukturen.

„Vetokratie“ - Herrschaft blockierender Kräfte
Fachleute bezeichnen dieses System „Vetokratie“ - Herrschaft der Blockierer; verschärft durch „Kleptokratie“ - schamlose Bereicherung und Korruption. Diese Kräfte haben überhaupt kein Interesse an einer Lösung. In der Verteilungsschlacht geht der eigentliche Staat vor die Hunde. Die Entwicklung erinnert an die Königsrepublik Polen im 18. Jahrhundert, die sich in dem Infight eitler Rivalen von der Landkarte ausradierte.

Wie konnte es mit dem einstigen „Monaco des Orients“ überhaupt so weit kommen? Dazu ein Blick in die jüngere Geschichte.

Assad rettete die Christen vor einer Niederlage
Im Jahre 1943 entließ Frankreich den Libanon in die Unabhängigkeit. Die Macht wurde in die Hände der Christen gelegt, speziell der Maroniten, die zusammen auch eine knappe Bevölkerungsmehrheit hatten. In einem „nationalen Pakt“ wurde bestimmt, dass Staatspräsident und Armeeoberbefehlshaber ein Christ, Ministerpräsident ein Sunnit und Parlamentspräsident ein Schiit sein muss.

Die Sunnis sind Träger von Handel und Wirtschaft, die Schiiten eine praktisch unterprivilegierte Gesellschaftsschicht. Die palästinensischen Flüchtlinge ab 1948 bleiben überhaupt ausgegrenzt, weil sie das heikle „Gleichgewicht des Schreckens“ kippen würden.

Religiös-ethnischen Gleichgewicht gefährdet
In den Fünfzigerjahren führten der arabische Nationalismus und das muslimische Bevölkerungswachstum zu ersten Konflikten. Als nach dem Nahostkrieg 1967 PLO-Chef Arafat im Libanon den palästinensischen „Ersatz-Staat“ aufbauen wollte, kam es zum Bürgerkrieg 1975-1990. Letztlich rettete damals der Einmarsch Syriens (!) die Christen vor der Niederlage. Assad (Vater) fürchtete, dass ein Kippen des religiös-ethnischen Gleichgewichts auch jenes in Syrien gefährden könnte (das hat sich im syrischen Bürgerkrieg bestätigt).

Im Libanon wurde 1992 durch ein Friedensabkommen die Macht neu aufgeteilt. Die Verteilung der Staatsspitze blieb zwar gleich, aber in Parlament und Regierung sind Christen und Moslems 50 zu 50. Ein Proporzsystem erfordert praktisch die Einstimmigkeit unter den Machthabern.

Ohne Hisbollah geht heute im Libanon gar nichts
Schlüsselfiguren wurden, der mit der Hisbollah verbündete und berüchtigte schiitische Parlamentspräsident Nabih Berri, der Sitzungen monatelang blockieren kann, sowie Hassan Nasrallah, Chef der Hisbollah (= Partei Gottes), die eine bewaffnete, vom Iran aufgerüstete Miliz („zur Verteidigung gegen Israel“) unterhält. Sie ist deshalb die einzige „erlaubte“ bewaffnete Kraft im Libanon neben der Armee.

Zentralbankchef verschob Milliarden ins Ausland
Schlüsselfigur ist aber auch der „ewige“ Zentralbankchef, der den Währungsabsturz verursacht hat, weil er Milliarden für sich und seine Freunde ins Ausland verschiebt. Es kann kein neuer gewählt werden, weil der Parlamentspräsident dazu keine Sitzung einberuft. In einem politischen Tauschgeschäft fordert Berri die Absetzung jenes Richters, der die Explosionskatastrophe untersucht und einen Minister anklagen möchte, der dem Schiitenblock nahesteht.

Wenn man hier mit Polit-Insidern spricht, dann wird immer darauf hingewiesen, dass Libanons Schicksal von der regionalen und internationalen Großwetterlage abhängig ist. Wie verlaufen die Atomgespräche in Wien? An wem würde Teheran die Wut auslassen? Wann trennt sich Washington von der Trump-Doktrin, wonach man den Libanon wegen des Einflusses des Iran bestrafen müsse?

Kartenhaus zusammengekracht
Der Libanon ist Spielball ausländischer Kräfte. Dabei hatte das Land ja 20 „goldene Jahre“ ab 1992 bis zum syrischen Bürgerkrieg. Die Wirtschaft blühte, allerdings in einem gigantischen Pyramidenspiel: Schuldenpolitik durch massive Kreditvergaben, die durch immer neue Kapitalinvestitionen von außen ausgeglichen wurden. Saudi-Arabien hatte damals über Premierminister Hariri Interesse an einem Wiederaufbau des Libanon. Dann kam Trump und stoppte die Saudis, weil die Hisbollah an der Seite von Assad in Syrien mitkämpfte. Damit war die Pyramide wie ein Kartenhaus zusammengekracht.

Heute ist der Libanon der kranke Mann der Levante. Eine bestens ausgebildete Mittelschicht ist zerstört, wandert aus, besonders die Christen als die großen Verlierer - schon zwei Präsidenten in Lateinamerika haben libanesische Wurzeln. Diejenigen Libanesen, die bleiben, sind Bittsteller geworden.

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Ich bin erschüttert über dieses einst stolze Land. Die Würde ist hier kein Thema mehr. Es grenzt an Selbstaufgabe.

Ein hochrangiger Besucher und Libanon-Kenner.

Ein hochrangiger Besucher und Libanon-Kenner zog jüngst Bilanz: „Ich bin erschüttert über dieses einst stolze Land. Die Würde ist hier kein Thema mehr. Es grenzt an Selbstaufgabe.“

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