Eines der 71 Opfer

3600 Kilometer Flucht endeten im Todes-Lkw

Ausland
08.10.2015 08:42
Knapp eineinhalb Monate nach dem schrecklichen Fund eines Lkws mit 71 toten Flüchtlingen ist nun erstmals die Geschichte eines der Opfer öffentlich geworden. Der britische "Guardian" hat die 3600 Kilometer lange Flucht des 35-jährigen Mechanikers Saeed Othman Mohammed nachvollzogen, die auf dem Pannenstreifen der A4 bei Parndorf endete. Sie steht stellvertretend für die verzweifelte Lage, die auch die anderen 70 Toten ursprünglich zur Flucht bewogen hat, zeigt aber auch die Skrupellosigkeit der Schlepper, denen der kurzfristige Profit wichtiger als das menschliche Leben ist.

Die Geschichte von Saeeds Flucht, die der "Guardian" aus einzelnen Berichten von Verwandten und Bekannten sowie auch Fluchthelfern zusammengesetzt hat, beginnt in Sulaimaniyya, einer kurdischen Stadt im nordwestlichen Irak. Im Gegensatz zu weiten Gebieten des Landes ist diese Stadt nicht von der Terrormiliz Islamischer Staat bedroht, den 35-Jährigen bewogen allerdings andere Gründe, seine Heimat zu verlassen: Er litt an einer Erkrankung, die seine Nieren schrumpfen ließ - nur noch eines dieser lebenswichtigen Organe funktionierte bei ihm, und das bereits eingeschränkt. Auf gute medizinische Behandlung konnte er in Sulaimaniyya nicht hoffen.

"Ich habe keine Zukunft an diesem Platz"
Zudem machte ihm die weitverbreitete Korruption im Land zu schaffen, gegen die er sich mehrmals politisch engagiert hatte. Deshalb fasste er im Juni noch einmal den Entschluss zur Flucht, nachdem er bei einem ersten Versuch 2006 in der Türkei verhaftet und zurückgeschickt worden war. "Ich habe keine Zukunft an diesem Platz", erklärte er laut "Guardian" einem Arbeitskollegen nach der Arbeit an einem lauen Sommerabend. Gemeinsam mit 13 Bekannten und Freunden buchte er beim Betreiber eines lokalen Reisebüros ein "All-in"-Paket für die Flucht nach Deutschland. Kostenpunkt: 9500 US-Dollar (etwa 8400 Euro). Zehn Tage sollte die Reise dauern, wegen des hohen Preises aber auch nur wenige Unannehmlichkeiten beinhalten.

Am 22. Juli verabschiedeten sich Saeed und seine 13 Weggefährten in den frühen Morgenstunden von ihren Familien. "Wir alle litten Qualen, mussten aber vortäuschen, dass wir uns für ihn freuen", erklärte sein älterer Bruder Ahmad gegenüber der britischen Zeitung. Er hatte den 35-Jährigen nur kurz davon zu überzeugen versucht, die Flucht wegen seiner schweren Erkrankung doch nicht zu wagen - es war aber fruchtlos. Ein Video, dass Saeed kurz vor der Abfahrt in die Türkei aufnahm, zeigt den Mechaniker mit ernstem Blick. Zuerst beschwert er sich über das Versagen der kurdischen Autonomieregierung, um dann festzuhalten: "Gott will es! Wir werden gehen, und wir werden nicht zurückkommen!"

Schnelle Reise endet in bulgarischer Haft
Zwei Autos brachten die Gruppe über die Grenze in die Türkei, wo sie in ein Flugzeug nach Istanbul umstiegen. Zwei kurdische Schlepper sorgten von dort für die Weiterreise nach Bulgarien, wo sie bereits knapp 24 Stunden nachdem sie in der Heimat aufgebrochen waren ankamen. Dann endete aber vorerst ihr Glück: Neun Männer in Polizeiuniformen hielten die Gruppe auf, verprügelten die Flüchtlinge, stahlen ihre Handys und ihr Geld und schickten sie in die Türkei zurück. Ein weiterer Versuch wenige Tage später bedeutete dann für einen Großteil der Reisenden den ersten Schritt zu ihrem Traum von einer Zukunft in Europa: Beinahe alle kamen durch, ein Flüchtling lebt mittlerweile in Österreich, ein weiterer in Finnland.

Saeed hatte weniger Erfolg: Er und drei weitere Wegbegleiter wurden von der bulgarischen Polizei verhaftet, bis zum 21. August befand sich der 35-Jährige in Haft und später in einem Flüchtlingslager. Sofort machten sich die vier Iraker daran, ihrem großem Ziel wieder näherzukommen. Der Reisebürochef aus dem heimischen Sulaimaniyya organisierte einen Schlepper, der die Flüchtlinge bis nach Serbien führte. Laut "Guardian" schickte Saeed ein Bild der Gruppe an seine Familie, das die vier Flüchtlinge in einem Wald zeigt - offenbar in guter Stimmung. Ein anderer Schlepper organisierte dann die Reise nach Ungarn, wo die Flucht für den Mechaniker schließlich ein tragisches Ende finden sollte.

Fahrt im Todes-Lkw - trotz Vorwarnung und Extrapreis
Am 24. August nahm eine tödliche Entwicklung ihren Lauf, die für Saeed und 70 weitere Menschen in einem Lkw auf dem Pannenstreifen bei Parndorf endete. Für die Fahrt nach Österreich war ein gewisser Karwan Hussein zuständig - von dem der Reisebürochef, bei dem die Flucht gebucht worden war, angeblich aber noch nie etwas gehört hatte. Zudem waren der Familie des Mechanikers bereits schlimme Erzählungen über den Schlepper zu Ohren gekommen. Einer aus der ursprünglichen Reisegruppe der Iraker hatte einem Bruder Saeeds eine Nahtoderfahrung in einem Lkw von Ungarn nach Österreich geschildert. Daher trieb die Familie 600 Euro auf und zahlte sie Verwandten des Schleppers, um dem schwer kranken 35-Jährigen ein ähnliches Schicksal zu ersparen und die Fahrt in einem Auto zu ermöglichen.

Das letzte Lebenszeichen des Flüchtlings erhielt der Reisebürochef im Nordirak am 25. August um 3 Uhr früh. "Ich habe ihm und den anderen gesagt: Steigt nur in ein Auto ein, auf keinen Fall in einen Lkw", so er gegenüber dem "Guardian". Warum es dann doch zu dem fatalen Schritt kam, weiß nur Schlepper Hussein, der ja auch dankbar 600 Euro extra für eine Autofahrt eingestreift hatte. Als sich der besorgte Bruder Saeeds bei ihm meldete, weil er noch keine Erfolgsmeldung von der Flucht nach Österreich gehört hatte, erzählte ihm der Schlepper kurz angebunden, dass der 35-Jährige wohl in Österreich oder Deutschland verhaftet worden sei - dann war er nicht mehr erreichbar.

Österreichische Polizei informierte Familie über den Tod
In der zweiten Septemberwoche erhielt die besorgte Familie dann doch noch Meldung über das Schicksal ihres Verwandten - allerdings nicht vom Chef des Reisebüros oder einem Schlepper, sondern von der österreichischen Polizei. Saeed Othman Mohammed, zwei Monate zuvor voller Hoffnung im Irak aufgebrochen, war auf der Fahrt von Ungarn nach Österreich qualvoll im Hinterraum eines Lkws erstickt. Der Mutter enthielten die Familienmitglieder die traurige Wahrheit aus Sorge um ihre Gesundheit so lange wie möglich vor, bis es nicht mehr ging. Denn nach der Obduktion wurden die sterblichen Überreste des 35-jährigen Mechanikers nach Sulaimaniyya überstellt - unter lautstarkem Wehklagen nahm die alte Frau ihren toten Sohn entgegen.

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