Seit fast 50 Jahren stellt der Berliner Alexander Hacke sein gesamtes Dasein in den Dienst von Kunst und Kultur. In der erweiterten Neuauflage seiner Memoiren „Krach – Verzerrte Erinnerungen“ (Ventil Verlag) gibt er uns Einblicke in ein Leben, das sich stets bewusst von jeder Form herkömmlicher Normalität absonderte.
Globalisierung und Gentrifizierung sei Dank ist das Berlin von heute längst nicht mehr so spannend, wie es einmal war. Umso schöner, wenn profunde Zeitzeugen ein akkurates Bild einer Stadt im Um- und Aufbruch zeichnen und dabei ihre eigene, spannende Lebensgeschichte darin verweben. Vorhang auf für die mannigfaltig tätige Kultfigur Alexander Hacke. Fans des legendären Musikers der Kultband Einstürzende Neubauten ist das Buch „Krach – Verzerrte Erinnerungen“ möglicherweise noch gegenwärtig, die erste Auflage erschien bereits 2015. Der musikalisch umtriebige Ventil Verlag und das Wiener Label Fabrique Records haben Hacke überredet, die letzten zehn Jahre in Form von weiteren 30 Seiten hinzuzufügen und das Werk noch einmal als Printauflage und Hörbuch aufgelegt, womit es – sofern man das nötige Körberlgeld dafür hat – auch für bereits kundige Leser interessiert ist.
Karrierebeginn als Teenager
Hinter dem ewig glänzenden und weitgehend bekannten Blixa Bargeld ist der künstlerische Genius Hackes von besonderer Ausprägung. Die Underground- und Avantgarde-Szene Deutschlands und später auch noch weit darüber hinaus hat er geprägt wie kein zweiter. Das war anfangs alles nicht so vorhersehbar, schließlich war die Berliner Heimat in den späten 70er-Jahren noch nicht der global interessante Kreativpool, der er über die letzten Jahrzehnte wurde. Hackes Einblicke sind nicht nur musikalisch verzerrt, wird man auch lesender Zeuge von Berauschungsmethoden, die vor allem jüngere Semester heute nicht einmal mehr vom Hörensagen kennen dürften. Die Schule brach er bereits mit 14 ab, um kurz darauf aktiv bei den Einstürzenden Neubauten einzusteigen und an der Seite von Bargeld und anderen Könnern eine Weltkarriere zu starten, mit der man angesichts der schrägen Musik der Band niemals rechnen konnte.
Hackes Erzählungen sind insofern interessant, als er selbst nur sehr selten wirklich prominent in der Öffentlichkeit stand und meist aus der zweiten Reihe heraus musizierte. Die einzelnen Kapitel im Buch sind zumeist chronologisch geordnet und lassen sich in unterschiedlich prägnante Lebensphasen des Vollblutkünstlers einordnen. Hacke dosiert die Geschichten, die mal privater, mal beruflicher Natur sind, in gut fassbare, kleine Einzelkapitel, die man auch häppchenweise konsumieren kann, wenn man gerade keine Zeit hat, um entspannt auf der Couch zu liegen. Durch den besonders lebendigen Erzählstil fühlt man sich live dabei, wenn er schon im Kinderzimmer erste Mehrspurkassetten zusammenstellt, auf Avantgarde-Musiker zwischen Hamburg und Düsseldorf trifft und dann zwei Jahre lang eine Beziehung mit einer gewissen Christiane F. eingeht, deren lose Autobiografie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ganzen Generationen Einblick in eine drogenvernebelte und perspektivenlose Jugend gab und gibt.
Kein Schuh ist zu groß
Hacke erzählt frei von der Leber und lässt dabei keinen Rausch und keine künstlerische Abbiegespur aus. Schon früh ist ihm die Tätigkeit als Gitarrist (und später Bassist) bei den Neubauten zu wenig. Hacke will mehr und tut mehr. Er gründet unzählige eigene Projekte, die irgendwo zwischen Avantgarde, Noise oder schrägem Pop firmieren und den titelgebenden Krach als kleinsten gemeinsamen Nenner für jene Mainstreamohren haben, die sich normalerweise nur in seichtesten Klanggefilden suhlen. So erweist sich natürlich der Teil, der die Jahre 1980 bis 1987 ins Zentrum setzt, als für Hacke-Fans interessantester. Die Neubauten wurden zu dieser Zeit zu einer Artpop-Band von Weltformat, Hacke wurde Teil der australischen Combo Crime & The City Solution und fand in den USA eine zweite Heimat, die für ihn im späteren Leben sogar als Zentrum des Daseins dienen würde.
Mit den zunehmenden Touren wird Hackes Einstellung noch multikultureller, als sie ohnehin schon war und in den frühen 90er-Jahren franst sein Tätigkeitsbereich endgültig ins Vielseitige aus. Mit den Jever Mountain Boys gründet er seine ganz eigene Country- und Blues-Band, er wird durch Fatih Akin zum Filmkomponisten und temporären Istanbul-Bewohner und wagt es für kurze Zeit, mit einem Fuß vorsichtig in das Mainstream-Wasser zu tappen. Italiens Rock-Röhre Gianna Nannini will sich neu erfinden und brüskiert ihr Majorlabel damit, Hacke und ähnlich schräg geartete Konsorten für eine Zeit lang als Studio- und Livemusiker zu engagieren. Für den Berliner mit dem Hang zum Obskuren ist diese berufliche Liaison genauso eine neue Erfahrung wie für die Popsängerin selbst – zwar mit Ablaufdatum, aber für beide Parteien durchaus lohnend.
Kreativität geht immer vor
Was „Krach – Verzerrte Erinnerungen“ aus dem Wulst an Musikerbiografien herausstechen lässt, ist unter anderem die ungeschönte Ehrlichkeit, mit der Hacke auch dunkle Momente aus seinem Leben in die Öffentlichkeit transferiert. Seit mittlerweile zwölf Jahren ist er trocken und drogenfrei, was in den knapp vier Dekaden davor passiert ist, würde andernorts ein stattliches Rhinozeros zu Fall bringen. Zudem bekommt man einen guten Einblick in ein künstlerisches Nomadenleben, das die Kreativität und Neugierde stets vor den Sicherheitsaspekt und schnelles Geld gestellt hat. Garniert wird die kunterbunte Lebensrückschau dafür leider nur mit kleinen Schwarz-Weiß-Fotos, da hätte man aus all dem zusammengesammelten Material zumindest in der Neuauflage mehr herausholen können. Nichtsdestotrotz ist „Krach – Verzerrte Erinnerungen“ eine wunderbare Rückschau auf ein einzigartiges Künstlerleben, das dem Leser auch das Berlin zu seiner unumstößlichen Kreativzeit begreifbar macht.
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