Schneiders Brille

Tage des Lesens

Um ein Buch zu lesen, braucht man seine Ruhe.(Bild: GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com)

„Krone“-Kolumnist Robert Schneider erinnert sich an jene vollkommenen Tage, als er einzig damit verbrachte, ein Buch zu lesen. Heute findet er diese Muse immer seltener – die Welt ist einfach zu laut geworden. 

„Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glaubten verstreichen zu lassen, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben.“ So beginnt ein kleiner, herrlicher Essay von Marcel Proust (1871 – 1922), der von den Stunden, den Tagen des Lesens handelt. Darin beschreibt er auf unglaublich charmante Weise und als ein hochgenauer Beobachter die Umstände des Lesens. Das, was während der Lektüre um einen herum passiert. „(...) die störende Biene oder der lästige Sonnenstrahl, die uns zwangen, den Blick von der Seite zu heben oder den Platz zu wechseln; die für die Nachmittagsmahlzeit mitgegebenen Vorräte, die wir unberührt neben uns auf der Bank liegen ließen, (...)“.

Der Text liest sich wie ein Echo aus fernen, längst vergangenen Tagen, als das Lesen tatsächlich noch etwas Geheimnisvolles, Wundersames und sogar etwas Verbotenes hatte. Ich erinnere mich: Als ich bei meinem alten Buchhändler Kuno Berchtold in Götzis Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ kaufen wollte, ein gelbes Reclam-Büchlein, nahm er es mir aus der Hand und sagte: „Du bist noch viel zu jung dafür.“ Ich war sechzehn. Meine Mutter sorgte sich und rief meinen Deutschlehrer an. Bei mir im Zimmer habe sie Bücher entdeckt, die vom Antichristen handelten. Brecht und so Kommunisten.

Ich hatte einen sehr verschwiegenen Platz, wohin ich im Sommer mit Decke und Buch hinaufwanderte. Ich wusste, dass mich hier niemand stören würde. Heute ist dieser Platz entweiht. Alle zehn Minuten rauscht ein Mountainbiker vorbei. Die Bremsen quietschen. Man kann keinem Gedanken mehr in Ruhe nachhängen. Und auch nicht mehr abhängen. Ach, diese vollendet schönen Tage des Lesens, wo es so still war um mich herum!