Open Air in der Arena

Bilderbuch: Möge die kreative Adipositas anhalten

Musik
08.05.2024 01:19

Bei der Fülle an großartigen heimischen Acts, ist es nicht leicht zu werten. Wenn es um die Mischung aus Kunst, Glamour, Opulenz und Rock‘n‘Roll im Livesektor geht, führen auch anno 2024 wenig Wege an Bilderbuch vorbei. Das bewiesen sie Montag und Dienstag diese Woche bei zwei ausverkauften Shows am Open-Air-Gelände der Wiener Arena.

(Bild: kmm)

Mehrfache Open-Air-Shows in der Arena und Bilderbuch – das funktioniert einfach und ist ein seit Jahren erprobtes System. Waren es vor zwei Jahren noch drei ausverkaufte Shows en suite, sind es diesmal derer zwei. Verkraftbar für eine Band, die seit jeher bewusst nicht den Weg Richtung Mainstream sucht, sondern mit beharrlicher Kompositionsarroganz darauf hinarbeitet, dass der Mainstream sich ihnen öffnet und mitgeht. Die Location ist nach den Querelen der letzten Monate auch ein wiederkehrendes Thema des Abends. Frontmann Maurice Ernst erinnert sich an 2011 zurück, als Bilderbuch – damals noch völlig unbekannt – das erste Mal hier spielten und rekapituliert seine Liebe zur Kultstätte. „Wer weiß, wie lange es das hier noch gibt? Vielleicht erinnert man sich einmal daran, dass das der Platz des Rock’n’Roll war. Irgendwann steht hier vielleicht ein Altersheim. Man will ja hier die Sonnenuntergänge sehen. Auf die Arena – da fehlt mir jetzt die Pointe.“

(Bild: Andreas Graf)

In der LED-Schachtel
Die zweite Bilderbuch-Show ist gleichzeitig auch die dritte, die mit der neuen, von der Stadt Wien mit 600.000 Euro subventionierten, Soundanlage für das Open-Air-Areal beschallt wird, nachdem ein paar Handvoll Anrainer der neugebauten BUWOG-Türme wenig Begeisterung für die akustische Kulturbildung gezeigt hatten. Die Querelen sind noch nicht ganz ausgestanden, die Anlage noch nicht zu 100 Prozent korrekt kalibriert, aber so gut eingestellt, dass man Österreichs vielleicht beste Liveband in Glanz und Gloria präsentieren kann. Die bandtypisch zur Schau gestellte Exaltiertheit schlägt sich mittlerweile auch schon in allerlei Bühnenrequisiten und visuellen Effekten nieder. Für die nach ihrer aktuellen EP „Softpower“ benannte Tour ummanteln sich die Oberösterreicher mit einer Box aus üppigen Videowalls, die das Liedgut während des Sets thematisch passend mit Feuersalven, Schneestürmen oder Bergketten verstärken.

(Bild: Andreas Graf)

Optisch haben sich ein paar Bilderbücher nach den vorjährigen Festivalshows wieder die Haare geschnitten. Bei der so wichtigen Kostümauswahl kreuzt man durch alle Dekaden. Maurice ist mit Lederhose, Handschellen und dem mit „Drama, Power, Fame“ (vorne) bzw. „Greed, Waste Money“ (hinten) bedruckten Unterhemd eine etwas hüftsteifere Version von Freddie Mercury. Gitarrist Michael Krammer kombiniert einen Woll-Buckethead der 2000er-Nu-Metal-Ära mit Girlie-Top und hautengen 70er-Jeans und der Kopfschmuck von Drummer Philipp Scheibl erinnert eher an einen amerikanischen Kapitolsstürmer, als eine klassische Pelzmütze der österreichischen Marke „Bärenfut“. So wie die Optik ist auch die Akustik von Bilderbuch seit jeher eigenwillig. Nichtgläubige mögen es affektiert nennen, die weitaus größere Anzahl an ihren ehrerbotenen Jüngern dient das Gesamtpaket Bilderbuch aber als Inspiration und Identifikation.

(Bild: Andreas Graf)

Posieren und musizieren
Die überbordende Wien-Liebe, die offen zur Schau gestellte Süffisanz, sich über Spotify-Playlists mit Taylor Swift zu vergleichen oder die austrabenden Posen von Maurice Ernst haben Bilderbuch nach einem knappen Jahrzehnt im Rampenlicht in Perfektion eingeübt. Es vermischen sich arrogant anmutende Falco-Referenzen mit ehrlichen Liebesbekundungen an die Fans. Blickt man hinter die Spiegelsonnenbrille von Maurice, erkennt man deutlich: Hier soll jeder Spaß haben und als Mensch auf der Bühne darf man sich ruhig ordentlich bejubeln und feiern lassen. Gut ist, wenn das Posieren sitzt. Noch besser, wenn die Musik dazu passt. „Softpower“, „Dino“ und das neue „Drugs“ leiten gut ins Set ein, bevor mit dem bewusst entstellten „Bungalow“ und der Doppelhals-Gitarren-Tirade „Nahuel Huapi“ die ersten Highlights aus den fein klingenden Arena-Boxen tönen.

(Bild: Andreas Graf)

Bilderbuch sind eine musikalische Wundertüte, die sich weniger über Genres, sondern mehr über die Passion zum Klang definiert. Unglaublich, in welcher Rekordgeschwindigkeit sich das Set vom funkigen „Willkommen im Dschungel“ über das poppige „Baba“ bis hin zum psychedelischen, an 70er-Jahre-Prog-Götter erinnernden und selbstbewusst überlang exerzierten „Aber Airbags“ entwickelt. Dazwischen ist kein Gramm fett zu viel, keine Note zu lange gezogen, keine Repetition ermüdend. Mögen sie auch die Hit-Lastigkeit des das Schlussdrittel eröffnenden „Maschin“ nie mehr erreicht haben, in welcher Breite und auch Reife die Bilderbuch-Kompositionen gewachsen sind, merkt man erst im Live-Direktvergleich. Wo man beim letzten Arena-Get-Together noch auf das gesamte Album „Gelb ist das Feld“ gesetzt hat, bleibt hier nur das Erlesenste übrig. Die melancholisch-entrückte Atmosphäre bei „Ab und Auf“ sorgt für ein leuchtendes Handymeer am Areal, mit dem chill-poppigen „Checkpoint (Nie Game Over)“ drückt man noch einmal fest auf die Gute-Laune-Knöpfe.

(Bild: Andreas Graf)

Platz für Jam-Sessions
Der bestens gelaunte Maurice Ernst animiert die Massen zum Pogen, zum Moshen und zum Jubeln. „Wien, gestern war lieb“, erinnert er an die erste Show am Tag davor, doch die Anwesenden wissen eh: Die wahre Magie, die findet hier und heute statt. Bilderbuch spielen im Direktvergleich zu den letzten Arena-Shows rund ein Drittel Songs weniger, kreuzen dabei aber wieder die knapp zwei Stunden Spielzeit. Mehr denn je sind sie eine in sich geschlossene, perfekt aufeinander eingespielte Jam-Band, die Platz zur Ausuferung und genaueren Akzentuierung lässt. Nirgendwo sonst in Europa treffen Queen, Tame Impala, Fleetwood Mac, Prince oder Bryan Ferry so niederschwellig zusammen, wie in diesem Quartett.

(Bild: Andreas Graf)

Bilderbuch live haben nach wie vor Weltklasseformat und mit der aktuellen Songbreite braucht man sich nicht vor den Großen der internationalen Märkte zu verstecken. Möge die am Rande des Konzerts angekündigte erste Wiener-Stadthallen-Show am 24. April 2025 einen weiteren Schritt Richtung internationalem Konzerthimmel bedeuten, mit beharrlicher Arbeit und Mut um Anderssein streben sie bereits lange darauf hin. Bilderbuch sitzen zwischen allen Stühlen und breiten ihren Arsch dabei so stolz aus, dass der Konkurrenz wenig Luft zum Atmen bleibt. Das mag den Mainstream-Fan von James Blunt-Singles mittlerweile abschrecken, der Connaisseur hingegen schnalzt freudig mit der Zunge. Möge die kreative Adipositas bei diesem Gespann live und im Studio noch länger anhalten!

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