Breivik-Prozess

Opfer von Oslo schildern Anschlag und Leben danach

Ausland
26.04.2012 14:50
Tag 9 im Prozess gegen den norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik. Ging es in den vergangenen Tagen um Breivik selbst, so sagten am Donnerstag Überlebende des Bombenanschlags im Osloer Regierungsviertel aus. Sie schilderten vor Gericht, teils unter Tränen, den Tag des Anschlags und wie sich ihr Leben seither verändert hat. Auf den Straßen Oslos protestierten indessen Zehntausende Menschen mit einem Lied gegen den 77-fachen Mörder.

Als Erstes kommt der 67-jährige Harald Fösker (Bild links) zu Wort. Er wurde bei der Explosion schwer verletzt und verlor knapp 80 Prozent seiner Sehkraft. Als die Bombe explodierte, habe er sofort gewusst, dass es ein terroristischer Anschlag war, sagt Fösker vor dem Osloer Amtsgericht, während Breivik ungerührt zuschaut. Er sei in seinem Büro schwer verletzt am Boden gelegen und habe sich nicht getraut, sich zu bewegen, falls die Explosion ein Loch in den Boden geschlagen haben sollte.

Noch immer leidet der 67-Jährige, der im Strafvollzug arbeitet, unter ständigen Kopfschmerzen und Gedächtnisverlust. Er war nach dem Anschlag zehn Wochen im Krankenhaus, rund 15 Kilo habe er abgenommen. Fösker arbeitet seit Weihnachten wieder, ist aber oft krankgeschrieben und befindet sich in psychologischer Behandlung. Weil er nicht selbst fahren kann, komme er jeden Tag mit dem Taxi zur Arbeit.

Empfangsdame knapp dem Tod entronnen
Als nächste Zeugin schildert eine 24-jährige Frau, wie sie amTag des Anschlagsin der Rezeption als Empfangsdame nur knapp dem Tod entronnen ist. Ihre Kollegin, die damals neben ihr saß, kam bei dem Anschlag ums Leben. Der 24-Jährigen, die während der Befragung durch den Staatsanwalt sogar lächeln kann, werden dann Fotos von sich selbst im Spital gezeigt. Sie wurde bei der Detonation schwer im Gesicht verletzt. Noch heute habe sie Glassplitter im Körper, verspüre aber keine Schmerzen mehr, so die junge Frau.

Es folgt der Vater der Frau, der den Leidensweg seiner Tochter im Detail schildert und wie sie sich seit dem Anschlag verändert hat. Er habe nach dem Anschlag erst spät am Abend erfahren, dass seine Tochter überhaupt noch lebt. Breivik blickt dabei nach unten und wirkt zunächst gelangweilt. Erst als der Mann, der während seiner Schilderungen immer wieder gegen die Tränen ankämpfen muss, die schweren Verletzungen seiner Tochter beschreibt, scheint das Interesse des Attentäters geweckt.

Vater: "Einfach fantastisch", dass sie lebt
Der Vater erklärt, wie Schädel und Augenhöhlen der Tochter gebrochen waren. Wochenlang lag die junge Frau auf der Intensivstation, bekam auch eine Lungenentzündung. Zehn Tage lang befürchteten die Eltern, sie würde es nicht schaffen. Nach vier Wochen kam sie dann in ein anderes Krankenhaus, konnte aber noch nicht gehen oder essen.

Ein Drittel ihres Gewichts hat sie verloren, sei schon vor dem Anschlag so dünn gewesen, erzählt der Vater weiter. Aufgrund einer Verletzung im Sehzentrum - die Augen selbst sind in Ordnung - kann sie schlecht lesen, weil sie die Augen nicht richtig bewegen kann. Aber das bessert sich, gibt er sich optimistisch. Dass seine Tochter noch lebe, sei "einfach fantastisch", so der Vater.

Mit blutüberströmtem Gesicht ins Freie geflüchtet
Nach einer einstündigen Pause ist dann Sissel Wilsgard an der Reihe. Die 61-Jährige hatte im 8. Stock des Regierungsgebäudes gearbeitet und bei der Bombenexplosion zwei Kolleginnen verloren. Sie selbst flüchtete mit blutüberströmtem Gesicht ins Freie, an viel mehr könne sie sich nicht mehr erinnern. Sie musste im Spital mit 70 Stichen genäht werden. Seit dem Anschlag ist Wilsgard immer noch im Krankenstand, obwohl sie gern wieder arbeiten würde. Doch sie hat Probleme mit Treppen, mit vielen Menschen - und mit dem Lesen.

Letzte Zeugin des Tages ist Line Benedikte Nersnäs (zweites Bild). Sie arbeitete am Tag des Anschlags in der Polizei-Abteilung des Justizministeriums im 11. Stock des Hochhauses. Ihre Kollegen waren kurz nach 15 Uhr schon gegangen, sie wollte aber noch länger arbeiten, als sie plötzlich einen Knall hörte. Am Gang traf sie dann einen Kollegen und erzählte ihm, dass sie Kopfschmerzen habe. Von ihm erfuhr sie, dass ein riesiger Holzsplitter in ihrem Kopf steckte. Erst da habe sie begriffen, was mit ihr los war.

Bombe hat ganzes Leben auf den Kopf gestellt
Im Krankenhaus wurde der Splitter - ein Teil eines Fensterrahmens - entfernt. Das Holzstück war zwar durch ihr Gesicht gegangen, hatte aber nichts ernsthaft beschädigt. "Ich hatte so viel Glück, dass es an ein Wunder grenzt", kämpft Nersnäs vor Gericht mit den Tränen. Zehn Tage war sie krankgeschrieben, ging dann aber wieder zur Arbeit. Nicht, weil sie wieder vollständig genesen war, sondern weil sie das gebraucht habe, um Abstand zu gewinnen. Die Bombe habe ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Früher hatte sie immer das Gefühl von Geborgenheit – das sei nun weg.

Mit Lied gegen Breivik protesiert
Während die Überlebenden im Gerichtssaal ihre Aussagen machten, versammelten sich auf den Straßen der norwegischen Hauptstadt Protestierende, um ein dem Rechtsextremisten verhasstes Volkslied zu singen (drittes Bild). Nach Schätzung der Polizei stimmten rund 40.000 Menschen auf einem Platz nahe des Gerichtsgebäudes, in dem sich Breivik für die Anschläge in Oslo und Utöya vom 22. Juli 2011 verantworten muss, das beliebte Lied "Kinder des Regenbogens" von Lillebjoern Nilsen an.

Breivik hatte vor Gericht Nilsen als "sehr gutes Beispiel eines Marxisten" bezeichnet, der die Kulturszene infiltriert habe und mit seinen Liedern norwegische Schüler einer "Gehirnwäsche" unterziehe. Zwei Norweger starteten daraufhin auf Facebook eine Kampagne, um das Lied wieder "zurückzuerobern".

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