Marcella Adami:

„Sowas habe ich in keinem Märchenbuch gesehen“

Vorarlberg
25.09.2023 11:55

Marcella Adami ist eine echte Sizilianerin. Sie arbeitete in einem Cafe in ihrem Heimatort, als ihr ein Vorarlberger über den Weg lief. Wie es dann weiterging, erzählte sie Schriftsteller Robert Schneider.

Ein kleines, erdgeschossiges Foto- und Tonstudio im Industriegebiet von Rankweil. Es nennt sich „Colosseum Sound Factory“ und wird von zwei Italienern geführt, die hier ansässig geworden sind, Marco und Marcella Adami. Er stammt aus Rom, sie aus Sizilien. Illustre Persönlichkeiten wie Roberto Blanco waren hier schon zu Gast. Heute ist eher ein ruhiger Tag. Giulietta, die kleine Tochter, die gerade in die zweite Klasse Volksschule geht, hat ihre Hefte vor dem Computer ausgebreitet und macht Hausaufgaben. Die Griffelschachtel überzeugt durch gespitzte Malstifte, akkurat nach Regenbogenfarben sortiert. Die Tür zum Aufnahmeraum steht offen, wo Papa Marco am Mischpult gerade einen Song verfeinert. Die Espressomaschine sei leider kaputtgegangen, entschuldigt sich Mama Marcella. Aber irgendwie funktioniert sie dann doch, nachdem der Papa Hand an die Maschine anlegt, und so komme ich zu einem italienischen Espresso, der - obwohl hier in Vorarlberg gezogen - nur darum so italienisch schmeckt, weil er eben von Italienern serviert wird. Die kleine Giulietta drapiert den Espresso sogar noch auf eine bunte Serviette. Wundervolle Gastfreundlichkeit auf Anhieb.

Robert Schneider: Man kommt hier rein, und gleich ist man in Italien ...
Marcella Adami: Ja, so sind wir halt. Wir freuen uns auf jeden Besuch.

Marcella, Sie stammen ursprünglich von Sizilien. Von wo genau?
Ich bin eine typische „Licatese“, aus Licata, das ist eine Stadt an der Südküste Siziliens mit einem mächtigen Kastell auf dem Gipfel des Sant’ Angelo-Hügels, ungefähr 200 Kilomete vom Ätna entfernt.

Was haben Ihre Eltern gearbeitet?
Mein Vater war Schweißer, meine Mutter Hausfrau. Wir waren drei Kinder. Ich habe noch zwei Brüder. Ich war in der Mitte. Da mein Vater viel unterwegs war, in Sardinien, Kalabrien, Palermo und auch in Deutschland, durften wir als Kinder immer bei Mama im Elternbett schlafen. Ich erinnere mich noch sehr genau und erzähle das auch oft meiner Tochter Giulia. Das Fenster stand offen, die frische Meeresluft strömte ins Zimmer herein, und das Leuchtfeuer des Leuchtturms schlug monoton an die Fassade des Nachbarhauses. Mit diesem beruhigenden Rhythmus bin ich als Kind eingeschlafen. Deshalb passte es mir nicht, wenn der Papa wieder nachhause kam, weil wir dann das Bett räumen mussten. Erst viel später habe ich gemerkt, dass wir beide den gleichen schwarzen Humor haben, uns eigentlich sehr ähnlich sind.

Leben Ihre Eltern noch?
Mein Papa ist vor fünfzehn Jahren an Lungenkrebs gestorben. Die Mama wollte nicht mehr in Sizilien bleiben. Das war ihr zu nah. Sie lebt jetzt in Rankweil. Deshalb habe ich kaum mehr Kontakte nach Licata. Wobei ich mir denke, es wäre schon schön, dort ein kleines Haus zu haben und wieder das Leuchtfeuer in der Nacht zu sehen.

Was war das für eine Kindheit? War sie streng?
Wir waren nur draußen. Internet oder Handy gab es damals ja nicht. Und wir haben noch Spiele gespielt, die es heute gar nicht mehr gibt. Z.B. „Sbracche“, ein Spiel, das es nur auf Sizilien gab. Da musste man dem Gegner auf den Rücken hüpfen, und wer einbrach, der hatte verloren.

Welche Ausbildung haben Sie gemacht?
Ich habe die Volks- und Mittelschule besucht und dann im Gastgewerbe gearbeitet ...

... und davon geträumt, aus Sizilien wegzukommen?
Eigentlich nicht. Ich arbeitete in einem Café auf der Piazza neben dem Gemeindeamt. Eines Tages tauchten dort vier Österreicher auf, die Urlaub machten. Darunter war einer, der von Kopf bis Fuß weiß angezogen war. Sogar weiße Schuhe trug er. Und er hatte außergewöhnlich gute Manieren. Das erste, was ich fragte, war, ob die Häuser in Österreich wirklich steile Dächer hätten, weil es das in Sizilien nicht gibt. Der Weiße, der übrigens aus Muntlix kam, sagte „Ja“. Später schrieb er mir immer Postkarten, und ich schrieb ihm zurück.

Und dann lud er Sie nach Vorarlberg ein.
Meine Mama sagte noch: „Wollt ihr euch nicht zuerst auf halber Strecke in Rom kennen lernen? Was ist, wenn er nichts taugt. Dann sprichst du wenigstens deine Sprache.“ Aber ich fuhr nach Österreich. Ich erinnere mich sehr genau. Das war am 9. August 1998, ein Sonntag. Ich war 21 Jahre alt. Das war meine allererste Reise ins Ausland. Ich war sehr ängstlich, setzte mich, als ich den Zug in Neapel wechselte, neben einen Carabinieri. In Innsbruck wurde ich dann von dem Mann in Weiß abgeholt. Der trug natürlich nicht mehr Weiß, dafür einen Blumenstrauß in seinen Händen. Er hatte nämlich die Befürchtung, dass ich anstatt nach Feldkirch in Richtung Feldkirchen fahren würde.

Wie waren die ersten Eindrücke? Eine vollkommen neue Landschaft ...
... Oh, das war unbeschreiblich! Ich fühlte mich so winzig. Die riesigen Berge, die Wasserfälle, die Seen. Alles so nah. Sowas habe ich in keinem Märchenbuch gesehen. Ich werde ja oft gefragt, ob ich Sizilien nicht vermisse. Gar nicht. Da gibt es den Frühling und danach ist alles braun. Aber allein die Farben hier! Ich weiß noch genau, als ich im ersten Herbst die bunten Blätter von den Bäumen aufsammelte, sie in ein Kuvert steckte und nach Sizilien schickte. Wie ich zum ersten Mal Schnee berührte, Eislaufen gegangen bin. Meine Mama sagte: „In zwei Wochen bist du wieder zurück.“ Ich ging nicht mehr zurück, sondern heiratete ein Jahr später in einem Dirndl. Natürlich vermisste ich am Anfang mein altes Leben, meine Sprache, das „Siciliano“ und die Art, wie wir dort essen.

Und der Unterschied der Mentalitäten?
Diese Frage höre ich immer wieder: „Und? Gefällt es dir hier? Die Vorarlberger sind doch so verklemmt.“ Das sagen aber nur die Vorarlberger über die Vorarlberger. Ich habe hier wunderbare Freunde gefunden und fühle mich im Ländle sehr integriert.

Sie haben zwei Söhne groß gezogen und sich dann von Ihrem Mann getrennt. Jetzt sind sie mit einem Römer verheiratet. Also doch wieder in Richtung Italien?
Mein ältester Sohn hat unter der Trennung gelitten, obwohl wir alle Freunde geblieben sind. Für ihn war Familie etwas Heiliges. Aber das Leben spielt oft anders. Dennoch haben mein Exmann und ich einen sehr guten Kontakt. Meinen zweiten Mann habe ich auf neutralem Boden gefunden, und zwar in der Schweiz. Also keine Rede von Zurückkehren. Ich bin hier wirklich zuhause. Das ist der schönste Platz. Ich will hier begraben sein. Obwohl, wenn ich auf Sizilien begraben werde, könnte man Basilikum auf meinem Grab pflanzen.

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