Erwin Kräutler

„Wenn es um etwas ging, war ich nie still“

Vorarlberg
10.04.2023 11:25

Autor Robert Schneider besucht in seiner „Krone“-Serie „Fremd daheim?“ Menschen mit migrantischem Hintergrund. Diesmal macht er es umgekehrt und sucht den Wahl-Brasilianer Erwin Kräutler in dessen Elternhaus in Koblach auf.

Das Du-Wort ist für ihn mehr als Bekundung der persönlichen Nähe zweier Menschen. Das Duzen ist gleichsam ein spiritueller Akt, eine Art Grundgestimmtheit seines ganzen Lebens, und zwar in dem Sinn, dass wir letztlich doch nur Schwestern und Brüder sind, über alle Kulturkreise, politschen Systeme oder Religionen hinweg. Weil Dom Erwin Kräutler von sich aus jeden duzt, ist er noch lange nicht amikal. Das Du bedeutet für ihn etwas ganz Anderes: Vergiss alles, was Dich in der Welt als groß und wichtig erscheinen lässt. Dann können wir reden. So verstehe ich ihn, diesen 84-jährigen Herrn, der mich mit wachem Blick aus den Augenwinkeln heraus ansieht und mit haarscharfem Verstand gesegnet ist.

Er, der zig Ehrendoktorwürden, zahllose nationale und internationale Preise auf sich vereinigt, war immer am Ausgesetztsein des Menschen interessiert. Dort beginnt er sein Tagwerk. Gemäß seines bischöflichen Wahlspruchs „Servus Christi Jesu“ (Diener Jesu Christi) interessiert ihn die Schutzlosigkeit der Seele. Nichts weniger. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine zweisprachige Bibel auf Griechisch und Latein, in der er täglich liest. Und im 1. Johannesbrief, den er wörtlich zitiert, findet er sein theologisches Weltbild umrissen, dass nämlich Christus sein Leben für uns eingesetzt habe, folglich auch wir unser Leben für unsere Schwestern und Brüder einsetzen müssen.

Robert Schneider: Eine brennende Frage zuerst, Dom Erwin: Schnupfst Du noch Tabak?
Erwin Kräutler: Damit habe ich im Jahr 2002 aufgehört. Sobald ich am Schreibtisch saß, brauchte ich zuerst Schnupftabak. Nach der Schreibarbeit fast einen Staubsauger. Da wusste ich: Jetzt ist es genug. Jetzt bist du davon abhängig. Und am 31. Oktober 1975, dem Reformationstag, habe ich mit dem Rauchen aufgehört.

Da werden, was mich betrifft, wohl noch einige Reformationstage verstreichen. In dieser Reihe interviewe ich Menschen mit migrantischem Hintergrund, die in Vorarlberg heimisch geworden sind. Bei Dir ist es jetzt umgekehrt. Wir sind in deinem Elternhaus. Obwohl Du seit fast sechzig Jahren in Brasilien wirkst, sprichst Du immer noch den Dialekt der alten Koblacher. Aus „Eier“ werden „Oier“, aus „elf“ wird „oalf“. Wo bist Du daheim?
Meine Wurzeln sind hier, aber mein Leben habe ich in Brasilien gelebt. Ich hatte nicht eine Minute, eine Sekunde lang das Bedürfnis, ich müsste jetzt zurück nach Koblach. Ich war und bin immer gerne da, aber mein Platz ist in Brasilien.

Dabei hattest Du als Junge im Internat so großes Heimweh.
Das war im damaligen Xaveriushaus in Feldkirch. Als elfjähriger Bub. Wenn ich auf den Ardetzenberg gegangen bin und von dort aus Koblach sehen konnte, habe ich laut geweint. Nichts passte. Der Riebel schmeckte nicht. Ich hatte einfach furchtbares Heimweh.

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Meine Wurzeln sind hier, aber mein Leben habe ich in Brasilien gelebt.

Erwin Kräutler

Nach dem Gymnasium hast Du Philosophie und Theologie studiert. War es für Dich immer klar, dass Du in einen Orden eintreten wirst?
Nein. Medizin hätte ich mir auch gut vorstellen können. Aber bei der Matura habe ich eine schwarze Rosette ins Knopfloch gesteckt...

Was heißt das?
Es war damals so ein Brauch. Rot bedeutete Jus, blau stand für Philosophie, grün für Medizin und schwarz eben für Theologie. Die Mädchen sagten: „Erwin, Du machst Witze. Das glaubt dir niemand.“

Die dachten, was für eine Verschwendung?
Was sie dachten, weiß ich nicht. Ich war natürlich immer sehr gesellig, habe leidenschaftlich gern Gitarre gespielt. Als ich die Gitarre einmal vor dem Griechisch-Professor Holzer verstecken musste, sagte er zu mir: „Kräutler, wann ändrscht du dein Leben?“ Ich antwortete: „Im Hirbscht.“ Und so war es auch.

Du bist nach dem Studium zu deinem Onkel Erich Kräutler nach Brasilien gegangen, der später Bischof in der Xingu-Prälation wurde.
Ja, er sagte: „Wenn Du Theologie studierst, dann kommst Du zu uns.“

Dein Orden sind die „Missionare vom kostbaren Blut“. Das Wort Missionar hat mittlerweile einen negativen Beigeschmack.
Hierzulande ist das Wort so konnotiert. In Brasilien merkwürdigerweise gar nicht. Ich habe nie irgendwen missioniert, sondern mit den Menschen gelebt, denn für mich war eines ganz klar: Die Kirche hat den Auftrag, die Regierungsverantwortlichen darauf hinzuweisen, dass Armut kein Schicksal ist, sondern gemacht wird.

Du hast dich immer eingemischt, dich für die Rechte der Indigenas eingesetzt, gegen ein riesiges Staudammprojekt gekämpft, in der Enzyklika „Lautato si“ von Papst Franziskus maßgeblich mitgearbeitet, hast Nachstellungen und Anschläge überlebt.
Eines ist natürlich klar: Wenn du für die Interessen der Indios eintrittst, bist du automatisch gegen die Interessen der Grundbesitzer, der Machthabenden. Wenn es um etwas ging, war ich nie still.

Stimmt es, dass Du heute noch in Brasilien unter Polizeischutz stehst.
Ja, das stimmt. Sobald ich am Flughafen ankomme.

Du bist mit Papst Franziskus befreundet. Ist sein Pontifikat, das so verheißungsvoll begann, gescheitert?
So würde ich es nicht formulieren. Ich glaube, er hat einfach Angst, dass es zu einem Schisma in der Kirche kommt. Dass es die Kirche zerreißt. Und das würde ihm unendlich leidtun.

Wie ist es zu erklären, dass beim II. Vaticanum in den frühen 60er-Jahren eine derart euphorische Aufbruchsstimmung in der Kirche herrschte, jetzt aber genau das Gegenteil der Fall ist?
Das weiß ich selber nicht, und ich verstehe es auch nicht. Bei der Einberufung des Konzils hatte man wirklich den Eindruck, jetzt stößt die Kirche alle Fenster auf, damit frischer Wind hereinkommt. Es war das größte kirchliche Ereignis des 20. Jahrhunderts. Zweifellos. Ich habe das Gefühl, dass in vielen Diözesen die Dokumente des II. Vaticanums noch gar nicht angekommen sind.

Beim nächsten Papst wird alles anders?
Das wissen wir nicht. Die Kurienkardinäle sind immer noch sehr mächtig. Aber auch dort gibt es wunderbare Persönlichkeiten, die sich eben nicht einmauern. Als Johannes XXIII. gewählt wurde, schlugen viele die Hände über dem Kopf zusammen und dachten, er sei nur ein Übergangspapst. Ein großer Trugschluss. Vielleicht geschieht nochmal das Wunder, und der Heilige Geist senkt sich über das Konklave herab.

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