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Endstation Kara Tepe: „Man möchte nur noch weinen“

Ausland
14.10.2020 17:31

Für Tausende Flüchtlinge ist das neue Lager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos Endstation ihrer Reise nach Europa: Viele warten seit mehr als einem Jahr auf einen Asylbescheid. Und viele zieht es noch immer zurück ins alte, abgebrannte Lager Moria. Dort war es trist, aber jetzt ist es noch viel trister.

Amira aus Afghanistan ist mit ihrem kleinen Sohn nach Moria gekommen. Gemeinsam suchen sie nach Habseligkeiten. Sie spazieren durch die Brandruine. Amira zeigt auf ihr ehemaliges Zuhause: „Das war die Kleidung meines Buben, da war unser Wasser. Nach dem Feuer gibt es unser Zuhause nicht mehr. Schau ... Die Flammen waren rot und gelb.“ Die Bäume und der Boden sind schwarz, alles ist voller Ruß.

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Ihr Sohn blieb unversehrt. „Mir geht es gut“, sagt der Kleine. Mittlerweile sind beide im neuen Lager Kara Tepe untergekommen. Platz gibt es nicht für jeden. Sie hatten Glück. Ihr Sohn will mit uns sprechen, wir fragen ihn, ob er im neuen Camp Freunde hat. „Nein, nein, keine Freunde“, entgegnet er. „Die Schule ist wichtiger, ich brauche die Schule.“ Und: „Ich brauche Europa!“

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Am Hafen bereitet Yanis seine Fischernetze für die Ausfahrt mit dem Boot vor. Was er über die Entwicklungen auf der Insel denkt? „Hier sind fast alle Einwohner ehemalige Flüchtlinge, 70 bis 80 Prozent. Nach dem türkisch-griechischen Krieg mussten die Griechen die Türkei verlassen und einige sind nach Lesbos zurückgekommen. Es war ein Austausch, ein ,Bevölkerungsaustausch‘, wie sie es nannten.“ Für ihn wiederholt sich die Geschichte einfach: „Die Flüchtlinge zahlen 2000 bis 5000 Dollar für die Flucht. Um das zu verdienen, muss ich ein Jahr lang jeden Tag um fünf Uhr in der Früh aufstehen“, meint er und lenkt sein Fischerboot auf das offene Meer hinaus.

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Auf einem Gelände neben dem ehemaligen Camp Moria hat eine Gruppe von Flüchtlingen Zuflucht gefunden. Den Zugang dazu regeln sie selbst, ein Schiebetor geht auf. Neben einer fast völlig abgebrannten Lagerhalle mit einem Autowrack spielen zwei Kinder. Daneben stehen provisorische Zelte, mittendrin ein Tisch und eine Sitzbank. Hier lebt Fauad aus dem Libanon. Dabei war er bereits am Festland mit einem fixen Job. „Ich habe in Athen gelebt, hatte meinen Job. Ich war bei einem Tattoo-Künstler tätig. Vor Athen war ich etwa ein Monat in Moria. Dann habe ich meine Registrierungskarte erhalten, es gab keine Reisebeschränkung, also bin ich nach Athen und hatte dort meinen Lebensmittelpunkt. Und war glücklich“, erzählt er. 

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
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Die Griechen sind toll, sie sind gute und keine schlechten Menschen.

Fauad aus Libanon

Eine Gesetzesänderung sowie die Polizei brachten ihn wieder auf die Insel Lesbos: „Vielleicht sind meine Papiere abgelaufen und ich hätte sie nach sechs Monaten mittels Termins erneuern sollen.“ Warum er in Moria seinen Tag verbringt und nicht in Kara Tepe? „Ich habe versucht, mir anzuschauen, wie die Menschen im neuen Lager leben. Ich war zwei Tage lang dort. Sie hatten kein Zelt übrig für mich, ich wollte nicht noch zwei weitere Tage dort verbringen, deshalb bin zurück nach Moria. Ich lebe wie einer, der überleben muss ...“ Gräuel hegt er gegenüber den Griechen keine: „Die Griechen sind toll, sie sind gute und keine schlechten Menschen. Aber hier lebe ich nicht mit Griechen, sondern mit Arabern und Afghanen.“

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Vom neuen Lager hält er sich fern: „Ich bin hier weit genug entfernt von diesen Problemen, deswegen bin ich ja auch hier, weit weg vom neuen Lager, weit weg von anderen Menschen.“ In seinem Zelt fühlt er sich nicht mehr sicher. Er will mittlerweile nur eines: „Zurück in mein Heimatland.“ Sein Alltag? „Die Polizei hat uns ins neue Lager gebracht, um einen Corona-Test zu machen. Im neuen Camp sind dann alle getestet worden. Gott sei Dank sind wir negativ. Deshalb haben sie uns wieder gehen lassen. Von 8 bis 20 Uhr darf man das Camp verlassen. Darum kommen wir nach Moria zurück und leben unter diesen Umständen.“ Es scheint, als wäre das Leben in der Brandruine einfacher als das Leben im neuen Lager.

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Auf der Straße vor dem ehemaligen Lager sitzt auch der 15-jährige Iman aus Afghanistan. Vor ihm ein Kinderwagen, der wahrscheinlich dem Transport dient. „Moria war schlimm, aber jetzt sind wir an einen neuen Ort gebracht worden. Ein Ort, der noch viel schlimmer ist als Moria. Es ist wie ein Gefängnis.“ Iman zuckt die Achseln. „Das ist Europa“, sagt er. Wenige Schritte weiter waschen zwei Bekannte aus dem Kongo zwei verrußte Plastiksessel. Es dauert länger, als man meinen würde. Clyde erzählt von seiner Zeit in Europa: „Ich habe eine Frau und ein Kind, es ist drei Jahre alt. Ich bin schon ein Jahr im Camp. Seitdem ich mit meiner Familie hier angekommen bin, hat sich nichts für uns ergeben. Durch den Brand hat sich hier alles nur noch verschlimmert. Wir sind aus dem Kongo geflohen, weil es dort große Probleme gab. Jetzt sind wir hier und es geht uns nicht gut. Die Probleme sind sogar noch schlimmer geworden.“

Semin aus Afghanistan ist mit ihrer Mutter und ihrem Sohn hier, sie hat einen intakten Mistkübel aus Plastik gefunden. „Die größte Sorge der Menschen in Kara Tepe ist das Essen. Es gibt nur einmal am Tag etwas zu essen, das ist sehr hart, vor allem für die Kinder und die alten Menschen. Es ist sehr schwierig“, seufzt sie. 

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Efi Thanou ist Anwältin beim griechischen Flüchtlingsrat in Lesbos nahe der St.-Therapon-Kirche am Hafen. Seit ungefähr sechs Monaten lebt sie auf der Insel. Mit Flüchtlingen arbeitet sie schon seit sieben Jahren. „Man sucht es sich nicht aus, Flüchtling zu sein. Ich glaube, wenn sie eine Möglichkeit hätten, in ihren Heimatländern zu bleiben, dann würden sie das auch tun. Keiner will flüchten. Ich bin überzeugt, dass alle, mit denen ich hier zu tun habe, Menschen in Not sind und einfach keine andere Wahl hatten.“

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Er kann aus jedem Land kommen, egal ob dort Krieg herrscht oder nicht.

Efi Thanou, Griechischer Flüchtlingsrat

Jeden Monat kommen mehr als 100 Menschen zu Frau Thanou und ihren Kolleginnen. „Viele denken, um Flüchtling zu sein, muss man aus einem Kriegsland flüchten. Was aber nicht ganz korrekt ist. Wenn man aus einem Kriegsland flüchtet, dann ist man anspruchsberechtigt für subsidiären Schutz. Das ist ein besonderer Status, der durch europäisches Verfassungsrecht festgeschrieben ist. Die Genfer Flüchtlingskonvention besagt aber auch, dass jemand Asyl bekommt, wenn er aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen verfolgt wird. Er kann aus jedem Land kommen, egal ob dort Krieg herrscht oder nicht.“

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Zu den Unruhen auf der Insel sagt sie: „Es gab schwierige Zeiten und es gab ruhigere Zeiten auf der Insel. Ich persönlich habe wegen meiner Arbeit noch keine Probleme gehabt. Ich hoffe, das bleibt auch weiterhin so. Und hoffentlich haben die Bewohner auf der Insel Verständnis für das, was wir hier machen, Verständnis für die Not und die Bedürfnisse der Flüchtlinge. Ich würde mich auch über stille Solidarität freuen, die es bisher gab.“

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
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Menschen bekämpfen einander, um Essen zu bekommen.

Ibraheem aus Gambia

Vorm neuen Lager spazieren Flüchtlinge mit ihren Einkäufen zurück, NGO-Vertreter machen Termine aus, die Polizei kontrolliert penibel die Mitbringsel jeder Moria-Tour. Ein Migrant kommt vollbepackt an, sein eiserner Mistkübel darf nicht mitgeführt werden. Schnüre, Kabel, Kiste und Plastiksackerl schon. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzt Ibraheem aus Gambia und blickt auf das Geschehen. „Mein Kopf, ich kann überhaupt nicht mehr klar denken ... Das System ist gef****.“ 

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Ibraheem ist entsetzt über die Zustände: „Man darf uns so nicht behandeln, wir sind Menschen genauso wie ihr, was ihr könnt, das können wir auch, verstehst du? Aber wir werden hier auf der Insel in einem Lager gehalten.“ Langsam verliert er seine Hoffnung auf ein besseres Leben: „Nichts hat sich geändert, Veränderung braucht Zeit, das weiß jeder. Wenn es wenigstens Anzeichen auf Veränderung geben würde. Aber da ist nichts.“

(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)
(Bild: Alexander Bischofberger-Mahr)

Für ihn ist es kein Wunder, dass Probleme entstehen: „Wenn wir nach Europa kommen, erwartet ihr von uns, dass wir gute Menschen sind. Schau dir das hier an. Schau es dir einfach an. Menschen bekämpfen einander, um Essen zu bekommen. Wenn du kein Essen bekommst, dann verhungerst du - oder du tust etwas Schlimmes.“ Und: „Sie sagen, wir sind ,illegale Migranten‘, wer sagt ihnen das? Sie kennen unsere Probleme nicht. Alle haben hier ihre eigenen Probleme. Alle leiden hier, alle, alle!“ Er schaut die Kinder vorm Camp an: „Da möchtest du nur noch weinen, schau dir die Kinder an. Sie sind die zukünftigen Entscheidungsträger.“

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