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Flüchtlinge wühlen in Brandruine nach Brauchbarem

Ausland
03.10.2020 19:55

Mytellini, Lesvos, Lesbos. 2015 wurden hier Flüchtlinge von den Inselbewohnern nordöstlich von Athen und zehn Kilometer vor der türkischen Küste solidarisch willkommen geheißen. Fünf Jahre später sprechen alle von einem „großen Problem“. Bewohner sowie Flüchtlinge sind völlig überfordert. Eine Insel mit zwei Gesichtern: Auf der einen Seite Fischerboote, Strand und Meer, auf der anderen Flüchtlinge, Camps und Verzweiflung. Hier befindet sich das berüchtigte Lager Moria, das fast zur Gänze abgebrannt ist. Mittlerweile konnten viele in das neue Lager „Kara Tepe“ umgesiedelt werden.

Lefto, der Taxifahrer, will anfangs ein Interview geben, überlegt es sich aber dann doch anders. Neben der befahrenen Straße marschieren Flüchtlinge vom und zum neuen sowie alten Lager der Insel. „Seid vorsichtig!“, meint Lefto. Mit dem Taxi nach Moria - das Lager ist nach der Ortschaft benannt. Konzipiert und ausgerichtet für 2800 Personen, dennoch lebten hier teilweise 20.000 Menschen. Jetzt liegt es in Schutt und Asche. Täglich kommen Flüchtlinge vorbei, um in ihrem ehemaligen Zuhause nach Brauchbarem zu wühlen. Kinder sammeln Murmeln, Jugendliche Elektronik, Familien packen gemeinsam mit an und transportieren ihr neues Hab und Gut. Gummi brennt gut, eiserne Töpfe zum Kochen, Waschmittel wird umgefüllt, intakte Plastikflaschen werden eingesammelt.  

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Alle sind hier verrückt geworden.

Faisul (38) aus Afghanistan

Leitungen werden erneuert, Hoffen auf positiven Bescheid
Faisul Jamali (38) kommt aus Afghanistan. „Ein Jahr lang habe ich hier in Moria gelebt, nach dem Brand sind wir jetzt in einem neuen Camp. Ein ganzes Jahr habe ich hier gelebt, ich bin verrückt geworden. Alle sind hier verrückt geworden.“ Wie es jetzt weitergeht? Er bricht fast in Tränen aus: „Ich weiß es nicht!“ Mit seinen Söhnen gemeinsam sucht er das riesige Gelände ab. Nach dem Brand werden die elektrischen Leitungen wieder instandgesetzt. „Wir brauchen sicher noch eine Woche“, erzählt uns ein Elektriker, der in seinem Auto alles überblickt.

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Moria war gut. Die Leute waren es nicht.

Raju (48) aus Bangladesch

Vollbepackt kommt Ali Reza (25) den Berg herunter, in der einen Hand hat er eine Gasflasche, in der anderen ein verrußtes Kochfeld. „In dem neuen Camp gibt es weder Strom, noch dürfen wir Feuer machen. Deshalb habe ich mir diese Gasflasche gekauft, damit ich mir was zum Essen kochen kann. All unsere Sachen sind verbrannt, ich habe jetzt weder was zum Anziehen noch irgendetwas anderes. In ungefähr 20 Tagen ist mein Interview. Ich hoffe, dass ich dann einen positiven Bescheid bekomme und ich diesen Ort verlassen kann.“  

Raju (48) aus Bangladesch spaziert mit Bandage am Arm und Besenaufsatz vorm ehemaligen Camp, zwei Hunde begleiten ihn treu. „Moria war gut. Die Leute waren es nicht.“ Warum der Brand? Wegen dem „Warten“. „Hier warten alle einen Monat, zwei Monate, sechs Monate, ein Jahr! - Noch immer keine Papiere. Da wird jeder Mensch verrückt.“

„Afghan is no good!“
„Ärzte ohne Grenzen“ betreiben hier eine Klinik. Genau nebenan bauen drei Männer ein Zelt aus der Brandruine auf. Davor schreit Raju eine Familie an: „Afghan no good!“ - ein Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ beruhigt ihn. Menschen sammeln sich vor der Klinik. „Wenn sie auf eine Transportmöglichkeit ins neue Lager warten, sollen sie sich in den Schatten setzen“, so Francisca Bohle Carbonell (32). Sie ist hier Krankenpflegedienstleiterin. „Es war nach dem Feuer schwer, weil sich 13.000 Leute auf der Straße befunden haben. So ist es schwierig, an unsere Patienten zu kommen.“  

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Es ist egal, wer das Feuer gelegt hat.

Francisca Bohle Carbonell (32) - Ärzte Ohne Grenzen

Bevor „Kara Tepe“ brennt, fallen Zelte auseinander
Für die Medizinerin ist es „egal, wer das Feuer gelegt hat“. Auch die Pandemie „war eine gute Ausrede, diese Leute festzuhalten. Die einzige Lösung, die es für die Menschen gab, war sie einzusperren, während in der Stadt der Flughafen wieder geöffnet war.“ Bevor das neue Camp „Kara Tepe“ angezündet wird „gibt es ganz andere Probleme.“ Denn: „Der Winter kommt. Die Nächte sind kälter. Seien es Überflutungen oder die Zelte fallen auseinander mit dem nächsten Gewitter. Im neuen Lager sind sie vom Wind nicht geschützt und nahe dem Wasser. Das kann nächste Woche schon passieren.“ 

Unsere offizielle Anfrage bezüglich eines Besuchs von Kara Tepe - um auch die Hilfslieferungen aus Österreich zu sehen - blieb zunächst unbeantwortet. Dann kam doch ein Mail vom griechischen Migrationsministerium: „Aufgrund der staatlichen Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des COVID-19-Virus, sind innerhalb des Camps keine Besuche erlaubt.“

Wiener brachte Spenden selbst in neues Lager
Bilder aus Inneren des neuen Lagers gibt es allerdings vom österreichischen Ex-Kampfsport-Weltmeister Ronny Kokert. Er sammelte 7000 Euro an Spenden und schleuste sich ins Lager ein (Video unten), um das Geld zu verteilen:

„Das Rein- und Rauskommen ist nicht einfach, weil es häufig Ausgangssperren gibt. Das Timing war entscheidend - und auch drinnen musste man sehr achtsam sein“, so Kokert im Gespräch mit krone.at. „Das Camp gleicht einem Gefängnis“, sagt Kokert.

Frau Maria ist Kellnerin in einer Taverne nahe der Festung von Mytellini - knapp sieben Kilometer von Moria entfernt. Hier merkt man eigentlich nichts von der „Flüchtlingskrise“ der Insel, zwei Fischer streichen ihr Boot vor der Ausfahrt am frühen Abend. Auch Maria zögert lange, bevor sie einwilligt zu reden. Laut ihr gibt es keinen Tourismus auf der Insel. „Nur Regierungsvertreter und Journalisten wie Sie kommen - und gehen wieder.“ Aber: „Das Problem bleibt auf der Insel.“ Laut ihren Angaben sollen Flüchtlinge gestohlen haben „aus Häusern, auch Hunde und Lämmer.“

Wie es in Zukunft weitergehen wird? „Ich weiß es zwar nicht, aber ich glaube dieses Problem wird nie aufhören - weil die Türkei sie herschickt.“  

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