"Krone"-Interview

Illi: “Hinschauen, wie Muslime unterdrückt werden”

Österreich
12.11.2016 17:01

Ihr gespenstischer Auftritt bei Anne Will am vergangenen Sonntag hat Millionen von Fernsehzuschauern verstört. Mit Conny Bischofberger spricht die konvertierte Muslimin Nora Illi (32) über Burka, Polygamie und Schweizer Käsefondue.

Wie nähert man sich einer Frau, die in einem schwarzen Schleier steckt, von der durch einen schmalen Schlitz nur ihre Augen sichtbar sind, und das Spiel ihrer Hände? In Gedanken stelle ich mir so ein Gespräch schwierig und ein wenig unheimlich vor, obwohl die Stimme - über den Inhalt hinaus - auch viel aussagt.

Das Tonband des Islamischen Zentralrats der Schweiz, wo die 32-Jährige "Frauenbeauftragte" ist, spielt orientalische Gebetsklänge, die Ansage ist dreisprachig (deutsch, französisch, arabisch). Eine freundliche Stimme des Generalsekretariats in Bern meldet sich, ein Interview sei kein Problem. Wir schlagen Nora Illi ein persönliches Treffen in der Schweiz vor. Das sei im Moment nicht möglich, schreibt Illi tags darauf in einer E-Mail. Am Donnerstag um 12 Uhr meldet sie sich telefonisch bei der "Krone". Das Display zeigt eine asiatische Nummer an.

"Krone": Frau Illi, wo sind Sie gerade?
Nora Illi: Im Ausland. Als Frauenbeauftragte des Islamischen Zentralrats Schweiz bin ich sehr oft im Ausland. Um Kontakte zu pflegen, an Sitzungen teilzunehmen und um Reden zu halten.

Telefonieren Sie jetzt auch in Vollverschleierung?
Nein, da ich mich in privaten Räumlichkeiten aufhalte. In der Öffentlichkeit trage ich meinen Schleier seit 15 Jahren überall auf der Welt. Zu Hause trage ich ganz normale Kleidung. Ich dusche auch nicht mit meinem Kopftuch.

Als Sie noch ein Teenager waren, haben Sie da kurze Röcke getragen und sich geschminkt?
Ich war ein Teenager wie jede andere auch. Natürlich hab ich auch kurze Röcke oder Tanktops getragen. Ich habe auch Punkmusik gehört. Der Unterschied in meiner Kleidung zu jetzt ist ja nicht so groß. Jetzt trage ich draußen eben einen Umhang und verschleiere mich.

Scheint dieses frühere Leben weit weg für Sie?
Da liegen 15 Jahre dazwischen. In 15 Jahren entwickelt man sich, man entwickelt auch eine neue Identität. Ich habe aber immer noch einen guten Kontakt mit meinen Eltern, ich habe auch noch vereinzelt Kontakt mit Freundinnen von früher. Ich verteufle das Leben von damals nicht ... Aber natürlich stehe ich heute ganz anders im Leben als dazumal.

Wie kommt eine gebürtige Schweizerin zum Islam?
Ich war auf der Suche nach Religion, nach Gott. Nach dem Tod meiner Großmutter ließ ich mich katholisch taufen, weil wir zu Hause - ich komme aus einem atheistischen Elternhaus - Religion nicht gelebt haben. Ich habe dann gemerkt, dass das Christentum, vor allem wie es heute praktiziert wird, für mich nicht stimmt. Auch mit Freikirchen konnte ich mich nicht identifizieren, ich bin dann weiter zum Judentum, eigentlich einen Schritt zurück. Dann kam ich zum tibetanischen Buddhismus, mit dem ich mich intensiv auseinandergesetzt habe. Auf einer Reise nach Dubai, auf dem Hotelbalkon, ertönte der Muezzin. Es war gerade Sonnenuntergang und ich sah die Gläubigen zur Moschee strömen und das hat mich wahnsinnig berührt. Ich fühlte, wie der Islam wirklich auch im Alltag integriert ist. Ich habe mich dann sehr mit dem Koran und anderen Büchern und speziell der Rolle der Frau im Islam auseinandergesetzt und entschieden, dass der Islam für mich der richtige Weg ist. Nirgends sonst wurde mir so großer Respekt als Frau entgegengebracht.

Vergangenen Sonntag trat Nora Illi vollverschleiert in der deutschen Talkshow "Anne Will" auf. Ihre radikalen Thesen irritierten und entsetzten die Fernsehzuschauer. Warum darf jemand, der nicht einmal sein Gesicht zeigen will, zur besten Sendezeit in einem öffentlich-rechtlichen Sender Propaganda für den radikalen Islam verbreiten? Und ein "Krone"-Leser schrieb: "Wer weiß, wer wirklich hinter dem Schleier steckt? Vielleicht sogar eine Terroristin."

Sie treten in Ihrer Funktion als Frauenbeauftragte des Islamischen Zentralrates Schweiz auf. Was machen Sie da?
Ich kümmere mich um die Anliegen der muslimischen Frauen, bei Fragen zu Ehe, bei Fragen zur Arbeit. Ich kümmere mich aber auch um Frauen, die Probleme haben, weil sie das Kopftuch angezogen haben und daraufhin ihre Stelle gekündigt bekommen. Ich kümmere mich um Mädchen, die Probleme haben mit dem Schulbesuch wegen ihres Kopftuchs. Ich leite aber auch regelmäßige Treffen für Frauen. Wir haben Islaminformationsstände unter dem Titel "Muslima stolz und frei" und beantworten Fragen rund um das Thema Frau im Islam. Das größte Anliegen ist mir, dass wir Musliminnen in der Gesellschaft einen Platz erhalten und uns auf Augenhöhe begegnet wird, ohne unsere Religion und Überzeugung ablegen zu müssen.

"Muslima stolz und frei" ist leider für Millionen von Frauen ein Hohn. Noch immer gibt es Länder, in denen Frauen bei Ehebruch gesteinigt werden, während für Männer die Polygamie gestattet ist! Das steht sehr wohl im krassen Widerspruch zu unseren Werten.
In einem freiheitlich-pluralistischen System wie der Schweiz sollten verschiedene Wertesysteme eine Existenzberechtigung haben. Zudem habe ich mich noch nie dafür eingesetzt, dass die Steinigung in der Schweiz eingeführt wird. Was die Polygamie betrifft, so ist sie in der Schweiz nicht möglich. Aber wieso sollte in einer Zeit, wo es möglich ist, dass Frauen Frauen heiraten und Männer Männer heiraten, wo das klassische Konstrukt der Ehe so weit aufgehoben ist, warum sollte es da nicht auch möglich sein, dass ein Mann mehrere Frauen heiratet? Da sollte man eine Gesetzesänderung in Betracht ziehen. Laut Studien geht jeder Zweite in seinem Leben einmal fremd. Ich glaube, dass es viel unehrlicher ist, eine Geliebte zu haben, als das Konzept der Polygamie oder Polygynie.

In der Schweiz ist Nora Illi keine Unbekannte. Sie wirbt dort seit vielen Jahren für den Schleier und gegen ein Minarettverbot. Im Kanton Tessin, wo ein Burkaverbot beschlossen wurde, ließ "Niqab-Nora", wie sie die Eidgenossen nennen, sich demonstrativ - und von Kameras begleitet - festnehmen. Die 32-Jährige ist ein Medienprofi, absolvierte eine Ausbildung zur Mediengestalterin und wurde bald zur Symbolfigur bei Islam-Debatten. Eine Muslimin, die sich unerschütterlich und wortgewandt - mit Vollschleier und Schweizer Pass - zur konservativen Ausprägung des Islam bekennt, diese Kombination war neu.

Warum leben Sie eigentlich nicht in einem islamischen Land? Dort würden Sie gar nicht auffallen und müssten sich auch keinen Anfeindungen aussetzen.
Ganz klar. Weil ich Schweizerin bin und es sehr vieles gibt, was ich an der Schweiz sehr schätze - die Bergwelt, wo ich wandere, die Seen, in denen ich gerne schwimme. Ich fahre auch Ski, ich fahre Snowboard, ich esse Fondue, ich esse Raclette. Ich habe eine Zeit lang in Ägypten gelebt, um Arabisch zu lernen, ich kenne das Leben dort ... Gerade Spielplätze, die ich in der Schweiz schätze, sind Mangelware. Also ich schätze das Leben in der Schweiz. Ich sehe nicht ein, warum ich mich von der Gesellschaft aus meinem Heimatland vertreiben lassen soll, aus einem Land, in dem wir von Pluralismus und Freiheit und Demokratie sprechen, nur weil ich für mich einen anderen Lebensentwurf gewählt habe.

Schwimmen, Ski fahren, Käsefondue essen. Wie funktioniert das alles mit einer Vollverschleierung?
Ich mach das alles mit dem Niqab. Andere schwimmen im Bikini und ich schwimme im Burkini mit einem Gesichtsschleier umgebunden. Beim Skifahren sind sowieso die meisten vermummt und das Halstuch bedeckt die Nase. Bei mir sitzt die Skibrille auf dem Schleier. Kein Problem. Beim Essen führt man die Fonduegabel unter den Schleier.

Der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) ist keinesfalls, wie der Name vermuten lässt, die Dachorganisation für die rund 400.000 Muslime in der Schweiz, sondern eine radikale Splittergruppe, die un - er ist ebenfalls Schweizer und heißt eigentlich Patric Jerome Illi - ist Sprecher des IZRS. "Ob Israel moralisch gesehen ein Existenzrecht hat, bezweile ich", zitiert ihn der Schweizer "Blick".

Wie viele Mitglieder hat der Islamische Zentralrat, und wie viele davon sind Konvertiten?
Wir führen keine Statistik darüber, wir haben Mitglieder von Schiiten über Sunniten bis hin zu allen möglichen Rechtsschulen. Uns geht es darum, dass wir die Vielfalt des Islams widerspiegeln.

Warum steht der Verein dann unter Beobachtung?
Der Imam, der auch bei Anne Will war, hat den Integrationspreis der Stadt Berlin erhalten und steht selbst auch unter Beobachtung des Nachrichtendienstes. Ich glaube, es ist eine einzige Hysterie, die momentan gegen Muslime herrscht. Wir sind ein offener Verein, wir haben keine Probleme, unter Beobachtung zu stehen, und wenn wir wirklich so gefährlich wären, wie das dargestellt wird, dann wäre schon lange gegen uns vorgegangen worden, was bis heute nicht der Fall ist.

Eine Anwältin hat nach Ihrem ARD-Auftritt Anzeige gegen Sie wegen Volksverhetzung erstattet. Der IS und auch Al-Kaida und das Sympathisieren sind bei uns verboten.
Ich finde das interessant, dann soll sie eine Anzeige erstatten. Ich glaube, unsere Statements sind klar. Die Radikalisierung von jungen Muslimen wird gerade durch Tatsachenverdrehung, durch radikale Berichterstattung gefördert! Das ist doch eine absolute Lügenmaschinerie. Ich habe mich in der Sendung klar und deutlich vom IS und allen gewaltbereiten Gruppen gegen Unbeteiligte und Zivilisten distanziert.

Von Ihnen stammt das Zitat: "Ich kann aus dem islamischen Kontext verstehen, dass es für junge Menschen eine Motivation gibt, nach Syrien zu gehen, um dort gegen die Schergen von Assad und für Gerechtigkeit zu kämpfen."
Ich muss ganz klar sagen, dass das Zitat stimmt. Man muss dazu diese Ungerechtigkeit und dieses Massaker, das der ehemalige Präsident von Syrien da verrichtet, sehen. Wenn wir zum Beginn der Revolution zurückblicken: Da sind junge Menschen aufgestanden, weil sie keine Rechte hatten, weil sie gefoltert wurden, weil sie getötet wurden, weil sie ihre Meinung öffentlich geäußert haben. Begonnen hat die Revolution mit einem Graffiti von zwei Jungs, neun und zwölf Jahre alt, die ein Statement gegen Assad auf eine Mauer sprayten - und da wurde der eine zu Tode gefoltert! Kann nicht jeder Mensch, der auch nur ein bisschen Gerechtigkeitsempfinden hat, diesen Aufstand nachempfinden?

Und was ist mit den Gräueln des IS, dessen Krieger Menschen abschlachten, um ein islamisches Kalifat zu errichten?
Dieser barbarische IS ist ganz bestimmt keine Alternative. Trotzdem müssen wir hinschauen, wie wir Muslime hier in Europa unterdrückt werden, wie uns das Leben schwer gemacht wird, wie vielen jungen Frauen jegliche Perspektive genommen wird, weil sie keine Lehrstelle finden mit Kopftuch, indem ihnen die Schule erschwert wird, indem ihnen zum Teil sogar der Zugang zur höheren Bildung verwehrt wird, weil sie schlecht benotet werden aufgrund ihres Kopftuchs und überall Rechtsstreite führen müssen. Da kann ich nachvollziehen, dass da so eine Verzweiflung entsteht, dass eine junge Frau als einzigen Ausweg sieht, sich in ein Kriegsgebiet zu begeben. Da hat sie dann eine rosarote Brille an und sieht die bitterharte Kriegsrealität nicht mehr. Die einfachste Lösung, das zu verhindern, wäre, den Muslimen einen Platz in der Gesellschaft einzuräumen.

In welcher Welt leben Sie, Frau Illi? Muslime SIND in der Schweiz und auch in Österreich und Deutschland integriert. Und außerdem: Wenn es Ihnen wirklich um Integration geht, wäre das nicht mit einem normalen Kopftuch leichter als mit Ihrer Vollverschleierung?
Ob ich mich verschleiere, ist eine Frage der Selbstbestimmung und des Freiheitsempfindens. Ich würde mich entblößt fühlen ohne Gesichtsschleier in einer solchen Sendung, weil für mich mein Gesicht ein Teil meines Selbst ist, den ich nicht präsentieren möchte. Ich kann auch im Schleier sehr wohl aktiv an der Gesellschaft teilnehmen.

Viele Länder sehen das nicht so und diskutieren ein Burkaverbot. Um dieses Thema ging es in einer Talkshow von Puls 4 Ende Oktober. Der ehemalige grüne Bundesrat Efgani Dönmez hat Ihnen damals ins Gesicht gesagt, dass Sie "gehirngewaschen" seien. Ihre Auftritte seien reine Provokation, hätten mit dem Islam nichts zu tun. Und er lasse sich seine Religion nicht von Ihnen in den Dreck ziehen. Er hat damit vielen - auch muslimischen - Zuschauern aus der Seele gesprochen.
Herr Dönmez ist ein Paradebeispiel, dass er uns Muslimen nicht auf Augenhöhe begegnet. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass es unter jeglichem Niveau ist, eine Frau als "Stück Elend" zu bezeichnen. Ich habe es nicht nötig, auf einem solchen Niveau zu diskutieren.

Privat lebt Nora Illi mit ihrem Mann im Berner Multikulti-Stadtviertel Bümpliz. Das Paar hat drei Töchter und einen Sohn, auch die Töchter tragen Schleier. Wie sie "oben ohne" aussieht, hat die deutsche "Bild" enthüllt (das ganze Foto können Sie in der Printausgabe der "Krone" sowie im "Krone"-ePaper sehen). Illi geht laut eigenen Angaben seit 15 Jahren nicht mehr ohne Schleier aus dem Haus und nennt das Foto einen "Tabubruch".

Können Sie nicht verstehen, dass die Vollverschleierung die Bevölkerung irritiert und deshalb in vielen Ländern - sowie im Schweizer Kanton Tessin - Burkaverbot herrscht?
Ich finde, ein solches Verbot ist der Schweiz absolut unwürdig! Es ist auch nicht realistisch. Ich sehe das Verbot im Widerspruch zur Schweizer Verfassung. Ich werde gerichtlich dagegen vorgehen, und zwar durch alle Instanzen - bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bis zur Widerlegung meiner Ansicht werde ich dieses Gesetz nicht beachten.

Das Wesen der Kommunikation - zumindest in einer offenen Gesellschaft - ist doch, dass man das Gesicht des Menschen sehen und wahrnehmen kann.
Ich glaube, es steht mir frei, als Frau selbst zu entscheiden, wer wie viel von meinem Körper sieht. Für mich ist mein Körper eine Ehrerbietung Allah gegenüber. In einer Gesellschaft, in der durch Körpermodifikation Mann zu Frau oder Mensch gar zu Tier wird, ist eine solche Aussage absurd. Es wäre viel wichtiger, dass man mal hinhört, was ich sage, und nicht am Ende verdrehte Tatsachen in den Medien publiziert.

Ich habe Nora Illi zugehört. Ihre Argumentation - Kampf gegen Burkaverbot, die Einführung der Mehrehe und dafür das Einfordern von Respekt - irritiert und verstört …

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