Es ist ein Dienstagvormittag im Oktober. In einem kleinen Kosmetikstudio setzt sich Anna vorsichtig vor den Spiegel. Die 42-Jährige hat Brustkrebs, Chemotherapie. „Als die Haare fielen, hatte ich das Gefühl, nicht nur meine Weiblichkeit zu verlieren, sondern auch ein Stück meiner Identität“, sagt sie leise. Doch heute strahlt sie. Auf ihrem Kopf sitzt eine Echthaarperücke, sorgfältig gestylt. Ein dezentes Make-up bringt ihre Augen zum Leuchten. „Ich erkenne mich endlich wieder und das bedeutet so viel.“


Wenn der Spiegel wieder zurücklächelt
Haarausfall und der Verlust von Augenbrauen und Wimpern sind für viele Frauen, die eine Chemotherapie durchlaufen oder aber an Alopecia erkrankt sind, ein tiefer Einschnitt. Alopecia - auf Deutsch auch Allopäzie genannt - ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die eigenen Haarfollikel angreift. Die Folge: Kopfhaare, Wimpern, Augenbrauen, manchmal auch die gesamte Körperbehaarung fallen aus. Die Krankheit ist nicht lebensbedrohlich, aber sie ist sichtbar und genau das macht sie für viele Betroffene so belastend. Beim Griff zur Perücke geht es deshalb nicht nur um Äußerlichkeiten - sondern um Selbstwert, Selbstvertrauen und Würde. Der Blick in den Spiegel kann zur täglichen Konfrontation mit der Krankheit werden. „Ich wollte nicht mehr rausgehen, weil mich die Leute so mitleidig angeschaut haben“, erzählt Martina, 35, die unter Alopecia leidet. „Mit der Perücke und etwas Make-up im Gesicht fühle ich mich wieder wie ich selbst - und plötzlich begegnen mir die Menschen ganz anders.“
Mehr als nur Haare und Farben
Echthaarperücken sind nicht bloß Ersatz. Sie sind für viele Betroffene ein Symbol der Normalität. Echtes Haar, das sich stylen lässt, das im Wind weht, das Bewegungen mitmacht. Sie können individuell angepasst werden von der Haarfarbe bis zur Frisur. Viele Frauen berichten, dass sie sich dadurch nicht verkleidet, sondern authentisch fühlen. Dazu kommt das Make-up: Augenbrauen, die mit feinen Strichen wieder Gestalt annehmen, Wimpern, die dem Blick Ausdruck verleihen. Sogar spezielle Schminkkurse für Krebspatientinnen helfen, Techniken zu erlernen, die den veränderten Bedürfnissen gerecht werden. „Es ist, als hätte ich wieder Kontrolle zurückgewonnen“, sagt Sabine, 50, die gerade ihre letzte Chemotherapie hinter sich hat.„Die Krankheit bestimmt so vieles. Aber wie ich aussehe - das darf ich selbst entscheiden.“
Es gibt kein Richtig oder Falsch
Doch nicht alle Frauen entscheiden sich für eine Perücke. Gerade unter Alopecia-Betroffenen ist es inzwischen weit verbreitet, ohne Haare in die Öffentlichkeit zu gehen. Prominente Beispiele haben dazu beigetragen, dass dass eine kahle Kopfhaut sichtbarer und akzeptierter geworden ist. „Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn man eine Perücke wählt“, betont Martina. „Und es ist auch kein Zeichen von besonderer Stärke, wenn man ohne Haare geht. Es ist einfach eine Frage dessen, womit man sich wohlfühlt.“
Brustkrebsmonat Oktober: Bewusstsein schaffen
Gerade im Brustkrebsmonat Oktober, der international der Aufklärung und Unterstützung von Betroffenen gewidmet ist, wird deutlich, wie wichtig das Thema Schönheit und Selbstwert ist. Neben der medizinischen Versorgung rückt auch die seelische Stärkung in den Vordergrund. Schönheit wird hier zur Ressource: Sie gibt Kraft, Mut und ein Stück Normalität zurück. Organisationen, die in diesem Monat zu Spenden und Solidarität aufrufen, betonen nicht nur die Bedeutung der Früherkennung, sondern auch die psychosoziale Unterstützung. Dazu gehören Angebote Perückenberatung, Schminkseminare oder Gesprächsgruppen, in denen Frauen offen über ihr Selbstbild sprechen können. Natürlich bleibt der Schmerz nicht aus. Der Blick in den Spiegel wie erinnert immer wieder an den Verlust. „Es gibt Tage, da kann auch die schönste Perücke nichts ändern“, sagt Anna. „Aber es gibt eben auch die anderen Tage - an denen ich mich im Spiegel ansehe und denke: Ja, da bin ich.“ Für viele Frauen geht es nicht nur darum, wie andere sie sehen, sondern wie sie sich selbst wahrnehmen. „Die Haare machen mich nicht zu einer Frau aber sie helfen mir, mich wieder wie eine zu fühlen“, sagt Martina. Lara ergänzt: “Und ich habe gelernt, dass auch meine Glatze weiblich sein darf.“
Ein leiser Triumph
Am Ende des Vormittags verlässt Anna das Studio. „Die Perücke ist nicht ich“, sagt sie. „Aber sie hilft mir, mich wieder zu fühlen wie ich selbst. Und das gibt mir die Kraft, weiterzukämpfen.“ Und während sie um die nächste Straßenecke biegt, wird deutlich: Schönheit ist kein oberflächlicher Luxus. Sie ist eine Form von Selbstbehauptung, ein Stück Normalität inmitten der Ausnahmesituation - und manchmal ein stiller Triumph.
Von Melanie Leitner