Seit wenigen Tagen wissen zwei Familien aus der Steiermark, dass sie vor 35 Jahren mit dem „falschen“ Kind die Grazer Geburtenklinik verlassen haben. Nun steht bei Betroffenen die Aufarbeitung ihres Schicksals im Vordergrund.
„War das schon ich – oder bist das noch du?“ Beide müssen lachen. Doris ist Samstagnachmittag das erste Mal bei Jessica zu Besuch, die mit ihrer Familie nur einen Steinwurf entfernt lebt. Gemeinsam schauen sie sich Babyfotos an, Aufnahmen aus ihrem „alten“ Leben. Sogar für sie selbst ist es aufgrund der starken Ähnlichkeit, die sie als Neugeborene hatten, schwer, die Kinder auf den Bildern auseinanderzuhalten.
Im Hintergrund spielen die Söhne der Frauen mit der Hauskatze Otto. Die Kinder haben keine Berührungsängste. Es gibt Kaffee – und viel Redebedarf. „Plötzlich fallen meiner Mutter unzählige Details von früher ein“, erzählt Doris. „Dass ich zum Beispiel als Kleinkind immer wieder starke Kopfschmerzen hatte und mir mit den Händen die Schläfen hielt.“ Pause. „Vielleicht Nachwirkungen von der Zangengeburt?“
Denn wie die Eltern nun seit dieser Woche wissen, haben sie 1990 nicht jenes Baby aus der Grazer Uniklinik mit nach Hause genommen, das sie wenige Wochen zuvor dort zur Welt gebracht hatten. Beide Mädchen waren Frühchen und längere Zeit von ihren Müttern getrennt. „Es ist für mich nicht wichtig, wann genau die Verwechslung passiert ist“, sagt Jessica. „Ich bin nicht böse auf jemanden, auf keine Krankenschwester und auch auf sonst niemanden – so etwas macht ja bitte keiner mit Absicht.“
Ich bin nicht böse auf jemanden, auf keine Krankenschwester und auch auf sonst niemanden – so etwas macht ja keiner mit Absicht.
Jessica
Auch Doris denkt nicht daran, verbittert in den Rückspiegel zu blicken: „Ich bin nur froh, dass die Suche jetzt ein Ende hat. Wir bekommen nach wie vor so viele berührende Nachrichten. Sogar Fremde, die meine Geschichte nur aus der Distanz über die Medien mitverfolgt haben, schreiben mir und freuen sich glaubhaft für mich.“
Wir bekommen nach wie vor so viele berührende Nachrichten. Sogar Fremde schreiben mir über Facebook, dass sie sich für mich freuen.
Doris
Jessicas Sohn möchte zu seiner Mama auf den Schoß. Doris’ jüngerer Sohn drängt aufs Nachhausefahren. Er kann es kaum erwarten, zum Feuerwehrfest zu kommen, wo sein Papa auf ihn wartet. Dann fällt ein Satz, der die Szene wohl am besten beschreibt: „Es ist so eigenartig: Irgendwie geht das Leben ganz normal weiter – und doch ist alles ganz anders.“
„Barbara, sitzt du?“, fragte mich Doris Grünwald Montagfrüh am Telefon. Gott sei Dank saß ich. „Du wirst nicht glauben, wer gerade neben mir sitzt“ ... Die meisten Geschichten im Tageszeitungsgeschäft greift man auf, begleitet sie eine Weile – und lässt sie dann auch gleich wieder los. Doch diese Geschichte, die für mich im Jahr 2016 begann, hat mich nie wieder losgelassen.
Von Anfang an war ich dabei, als bekannt wurde, dass zwei Babys an der Grazer Uniklinik vertauscht worden waren. Ein Teil der Betroffenen – Familie Grünwald – wandte sich vor knapp zehn Jahren erstmals über die „Krone“ an die Öffentlichkeit, verzweifelt auf der Suche nach ihrem Gegenstück. Leider vergeblich. Sie waren enttäuscht, ich war es auch.
Das Leben ging trotzdem weiter. Doris, die vertauschte Tochter, fand ihre Liebe, bekam zwei wunderbare Kinder, bezog ihr mühevoll hergerichtetes Haus in einem kleinen Ort im Osten der Steiermark. Immer wieder kamen wir zusammen, hinter den strahlenden Fotos in der Zeitung verbargen sich oft Tränentäler, über die nie öffentlich berichtet wurde.
Besonders beeindruckt hat mich über all die Jahre vor allem die Stärke und Zuversicht von Doris, der mit 22 plötzlich die Wurzeln fehlten: stets positiv, stets dankbar für das, was da ist.
Trotz der Fülle in ihrem Leben blieb jedoch immer dieser eine Mangel, eine Leerstelle, die kein anderer und nichts anderes kompensieren konnte: die quälende Frage nach den leiblichen Eltern. „Warum melden sie sich nicht? Fehlt ihnen der Mut? Wollen sie es nicht wissen? Oder haben sie es vielleicht gar nicht mitbekommen, meine verzweifelte Suche?“ Doris’ Gedanken drehten sich im Kreis. Ans Aufgeben dachte sie aber nie.
Dass mit Jessica, der anderen vertauschten Tochter, und ihren Eltern Herbert und Monika diese ungewöhnliche Lebensgeschichte vor Kurzem nun doch noch ein gutes Ende findet, ist auch für mich eine der bewegendsten Erfahrungen in meinem Leben. Als Journalistin, vor allem aber als Frau und Mutter.
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