Vor rund 13.000 Fans feierten die Industrial-Pioniere Nine Inch Nails Freitagabend ihr Österreich-Comeback nach elf Jahren Abwesenheit. Trent Reznor und Co. zeigten sich in Top-Form und lieferten ein audiovisuelles Spektakel, an das sich die Zuseher noch viele Jahre lang erinnern werden.
Tagelang hielt eine erste Hitzewelle die Bundeshauptstadt in ihren feurigen Klammern. Durchbrochen nur von der Rückkehr des wahren Fürsten der Finsternis. Wie bestellt öffnen sich am Konzerttag der Nine Inch Nails in Wien nicht nur die Himmelsschleusen, die Temperaturen sinken auf unter 30 Grad Celsius runter. Der perfekte Rahmen für das heiß ersehnte Comeback der Industrial-Pioniere aus Cleveland. 2014 war die Band rund um Mastermind Trent Reznor das letzte Mal in Wien zu Gast, 2007 gab es einen Auftritt beim Frequency Festival, dessen Publikum er später als „das schlechteste der gesamten Tour“ bezeichnete. Reznor ist mittlerweile 60 Jahre alt und hat nicht mehr viel mit dem Typen gemein, der NIN zu einer der härtesten und größten Rockbands des Planeten machte. In den letzten zehn, 15 Jahren konzentrierte er sich mit Freund Atticus Ross auf das Komponieren von Film-Soundtracks. NIN-Veröffentlichungen, so es überhaupt welche gibt, mäandern seither lieber in geisterhaft-düsteren Ambient-Sphären.
Einheizen ohne große Effekte
Aus irgendwelchen Gründen hat Reznor aber Lust auf seine Vergangenheit bekommen und eine Welttournee angesetzt, die auch nach Österreich führt. Mit rund 13.000 Besuchern ist die Wiener Stadthalle so gut wie ausverkauft, durch die drei Bühnen ist auch nicht viel mehr möglich. Auf der hintersten davon tummelt sich eine Stunde vor Anpfiff der Hauptdarsteller der kultige Hamburger DJ Boys Noize und macht das hoch motivierte und äußerst disziplinierte Publikum mit dicken Beats und einem druckvollen Sound warm. Er ist über die Jahre zu einem Intimus der Reznor/Ross-Achse geworden, nimmt bereitwillig Auftragsarbeiten von beiden an und ist der passende Einheizer für die Shows quer über den Globus. Seine Salven feuert er ohne visuelle Zusatzeffekte oder stimmungssteigernde Gimmicks durch die bereits gut gefüllte Halle. Ein Mann, seine Turntables und ein knackiger Sound – das reicht nicht nur, es zieht früh gut in den Abend hinein.
Von Boys Noize wildem DJing geht es nahtlos über zur Mittelbühne, wo Reznor anfangs ganz alleine am Klavier sitzt und sanft „Right Where It Belongs“ zum Besten gibt. Krankenhausartig-kühles Licht leuchtet sanft auf ihn herunter, während er mit brechender Stimme gegen die tosenden Publikumsreaktionen ankämpft. Beim nur mehr partiell akustisch gespielten „Ruiner“ gesellt sich langsam auch die Band zu ihm, „Piggy (Nothing Can Stop Me Now)“ ist dann die Initialzündung für den Frontmann, das Mikro in die Hand zu nehmen, die kleine Zwischenbühne zu umrunden und mit Inbrunst den glückseligen Fans entgegenzusingen. Dieses offen zur Schau gestellte Glück nimmt man dem Frontmann authentisch ab. Vor 30 Jahren quälten ihn noch Suizidgedanken und die drei Meisterwerke „Pretty Hate Machine“ (1989), „The Downward Spiral“ (1994) und „The Fragile“ (1999) sind depressiv-melancholische Ausgeburten eines persönlichen Höllenzustands. Schnee von gestern.
Brillante Mischung
Nicht nur aufgrund der aufwühlenden Vergangenheit hat sich Reznor in den letzten Jahren rar gemacht. Der fünffache Familienvater hat seine ausufernde Drogenzeit längst hinter sich gelassen. Er wirkt mental und physisch in Top-Form, aber aus so einer gesettleten Lebensposition heraus lassen sich schmerzvolle Meisterwerke nur noch schwer fertigen. Wichtig ist, dass Reznor auch in hellen Phasen seine Verbindung zu den alten Songs findet und das tut er mühelos. Das Hit-Produkt „The Downward Spiral“ legt er dem Wiener Publikum in äußerst üppiger Art und Weise zu Füßen. „March Of The Pigs“ und „Reptile“ fahren im ICE-Tempo durch die Halle, „Heresy“ feiert die sanfte Dissonanz und mit dem bekannten Kracher „Closer“ verwandelt er den Saal in einen Tanztempel. Beeindruckend, wie glasklar, markdurchdringend und nahezu fehlerlos der Sound an allen Ecken und Enden funktioniert, dazu sind die opulenten Lichteffekte von fast schon außerirdischer Brillanz.
Auf der Hauptbühne verstecken sich die Musiker hinter einem dreidimensionalen Vorhang. Ein Kameramann filmt live und projiziert das ungefilterte Erlebnis direkt dahinter auf die überbordende Leinwand, die mal in Schwarz-Weiß-Optik oder auch in mystischem Grün mit dem bedrohlichen Rotlicht interagiert. Reznor lässt die Musik sprechen. „Copy Of A“, „Gave Up“, 1,000.000“ oder „Less Than“ sorgen für Begeisterungsstürme, dazwischen geht es für drei Tracks wieder auf die B-Stage zurück. Dieses Mal aber nicht für ein sanftes Akustik-Intermezzo, sondern für eine Clubbing-Einlage. Reznor singt, während Ross und Boys Noize bei „Vessel“, „The Warning“ und „Come Back Haunted“ an den Reglern schrauben und die Stadthalle für eine Viertelstunde lang in ein massentaugliches Berghain verwandeln. Das Wort ans Publikum richtet der Großmeister nur nach dem mitreißenden „Closer“. Er bedankt sich innig, zeigt sich von der Stimmung überwältigt und freut sich, dass hier und heute eine besondere Verbindung herrscht. „Wir waren nur etwa 15 Minuten in eurer Stadt, bevor wir wieder weiterziehen“ – dafür sind die 100 Minuten auf der Bühne im Grunde unfehlbar.
So leicht ist die Schwere
Die Dynamiken aus laut und leise, schrill und gediegen oder mitreißend und entspannend sind es, die die „Peel It Back“-Tour der Nine Inch Nails so besonders gestalten. Die düstere Karriere-Retrospektive wird allabendlich neu durchgewürfelt, was Vor- und Nachteile mit sich bringt. Die Wiener Fans müssen etwa völlig auf Material des famosen „The Fragile“-Albums verzichten, gerade das sich in die Seele bohrende „The Day The World Went Away“ hätte in seiner belastenden Schwere unheimlich gut in den Gesamtkontext gepasst. Reznor ist aber kein Diener seiner Fans, sondern seiner Kunst. Er entscheidet gerne instinktiv und fügt sich jener Richtung, die ihm die Musik vorgibt. Dass beim emotionalen Kult-Song „Hurt“, der Johnny Cashs spätes Leben so gut reflektierte, dass Reznor dessen Cover-Version quasi als gleichberechtigtes Kunstwerk akzeptierte, großteils Ruhe herrscht und die Menge ihrem Helden lauscht, passt gut ins Bild. Keiner stürmt verfrüht raus, es gibt keine Zugabe und keine Gimmicks - Künstler und Besucher sind zufrieden und beseelt. So leicht kann sich bleierne Schwere anfühlen.
Kommentare
Willkommen in unserer Community! Eingehende Beiträge werden geprüft und anschließend veröffentlicht. Bitte achten Sie auf Einhaltung unserer Netiquette und AGB. Für ausführliche Diskussionen steht Ihnen ebenso das krone.at-Forum zur Verfügung. Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.
User-Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Betreibers/der Redaktion bzw. von Krone Multimedia (KMM) wieder. In diesem Sinne distanziert sich die Redaktion/der Betreiber von den Inhalten in diesem Diskussionsforum. KMM behält sich insbesondere vor, gegen geltendes Recht verstoßende, den guten Sitten oder der Netiquette widersprechende bzw. dem Ansehen von KMM zuwiderlaufende Beiträge zu löschen, diesbezüglichen Schadenersatz gegenüber dem betreffenden User geltend zu machen, die Nutzer-Daten zu Zwecken der Rechtsverfolgung zu verwenden und strafrechtlich relevante Beiträge zur Anzeige zu bringen (siehe auch AGB). Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.