„Krone“-Interview

Oliver Sim: Musikalisch aus der eigenen Katharsis

Musik
07.09.2022 06:01

Als ein Drittel von The xx hat Oliver Sim über die letzten Jahre hinweg die Indie-Electropop-Schiene revolutioniert, doch ebenso wie seine beiden Kollegen entschied er sich in der Pandemie für einen Ausflug in Solo-Gefilde. Aus einzelnen Songs wurde plötzlich eine ganze Platte, und die hat es in sich. Auf „Hideous Bastard“ eröffnet er sein mehrjähriges Leben mit einer positiven HIV-Diagnose, stellt sich seinen inneren Dämonen und geht erstmals mit persönlichen Problemen in die Öffentlichkeit. Im „Krone“-Talk erzählt er ausführlich davon - kein Wunder, dass er nach diesem Seelenstriptease auch wieder gerne in den geschützten Kokon seiner Band zurückkehrt.

(Bild: kmm)

„Krone“: Oliver, dein Solodebüt nennst du „Hideous Bastard“ - eine der brutalsten Selbstbeschreibungen, die ich von einem Künstler bislang gehört habe…
Oliver Sim:
„Hideous Bastard“ ist tatsächlich sehr brutal, aber gleichzeitig auch sehr komisch. Es sollte selbstironisch und voller Humor sein, auch wenn die Themen ernst sind. Meine gute Freundin nennt mich schon seit Jahren so, aber immer mit viel Liebe und Witz. So war es klar, dass das Album so heißen muss.

Das Album beginnt mit dem Song „Hideous“ und endet mit der Textzeile „been living with HIV since I was 17 / Am I hideous?“ - wie schwer lastete der Druck auf dir, mit deiner HIV-Erkrankung endlich in die Öffentlichkeit zu gehen?
Für mich war es extrem wichtig. Ich habe mich wie ein Hochstapler gefühlt, weil ich dieses Thema nie nach außen getragen habe. Ich habe mich für die Ehrlichkeit entschieden, was in meiner Vergangenheit nicht immer der Fall war. Es ist leichter im Songwriting ehrlich zu sein als in normalen Unterhaltungen. Ich kann eine Zeile schreiben und die Musik für sich sprechen lassen. Ich muss nicht einmal im selben Raum sein wie andere oder Augenkontakt halten, wenn meine Botschaft von anderen empfangen wird. Meine Mutter war der zweite Mensch, dem ich diesen Song vorspielte und sie sagte mir, ich müsste unbedingt mit Leuten darüber reden. Sie kennt mich besser als jeder andere und meinte, ich solle Babyschritte machen und schauen, wie es sich anfühlt. Die Gespräche waren wichtiger für mich als den Song zu veröffentlichen. Ich fühlte mich anfangs komplett unwohl, aber mit jedem Gespräch ging es etwas besser und ich kam zunehmend aus meinem inneren Zirkel hinaus. Irgendwann habe ich angefangen mit Journalisten darüber zu sprechen, die ich noch nie zuvor getroffen habe. Als ich den Song veröffentlichte, war die Kontrolle darüber weg und ich wusste, ich musste mich dem Thema stellen. Für mich war es ein immens großer Schritt.

Hast du dich beim Schreiben dieses sehr persönlichen Albums selbst besser kennengelernt?
Durchaus. Ich wurde offener. Ich bin draufgekommen, dass das schwere Thema in meinem Kopf größer und größer wurde und es notwendig war, damit nach draußen zu gehen. Ich musste es teilen, damit mir andere Menschen auch etwas Persönliches erzählen und es zu einem richtigen Austausch wird. Ich habe verstanden, dass es mich nicht wenig liebenswerter macht, wenn ich offen damit umgehe und meine Beziehung mit den mir geliebten Menschen wurde dadurch nur noch enger und intensiver. Wenn wir bereit sind, etwas zu teilen, dann öffnet das anderen die Tür, auch etwas zu teilen. Es gibt Menschen in meinem Leben, mit denen ich dieses Thema geteilt habe, aber nur ein einziges Mal. Danach wurde es quasi unsichtbar und das fühlte sich immer sonderbar an. Für meine Familie und Freunde war es schwierig damit umzugehen, denn sie wollten mich einerseits nicht drängen, mir andererseits aber auch helfen. Beziehungen sind etwas Gutes, das weiß ich jetzt.

Du hast mit berühmten Leuten wie Sir Elton John, John Grant oder Jimmy Somerville von Bronski Beat über dieses Thema gesprochen. Haben sie dich in deinen Entscheidungen bestärkt und die Art der musikalischen Umsetzung gutgeheißen?
Ich habe so viel von diesen Leuten gelernt, das kann ich gar nicht in Worte fassen. Als sich meine Freundschaft mit Jimmy entwickelte, hatte ich eine bestimmte Vorstellung davon, wer er sei. Eine extrem kraftvolle Stimme, nicht nur für den Themenkomplex HIV, sondern als Typ im Allgemeinen. Ich sah ihn immer als eine furchtlose, offene, fast schon militante Person, aber als ich ihn näher kennenlernte, war er fast das Gegenteil davon. Er hat genauso viel Angst wie ich und das macht alles, was er gemacht hat, noch viel cooler. Er ist einfach ein Mensch wie du und ich. Er war sehr nett und geduldig und machte mir gleich klar, dass ich damit nicht um des Themas willen nach außen gehen solle, sondern auch wirklich bereit dafür sein müsste. Das war nicht nur sehr weichherzig, sondern auch unterstützend. Er machte mir unmissverständlich klar, dass zuerst ich mit allem okay sein müsste. Alles andere käme erst danach.

Einer meiner Favoriten am Album ist „Saccharine“, wo eine sehr fragile Instrumentierung deine starke Stimme unterstützt. Wovon handelt dieser Song?
Das war einer der ersten Songs, der für das Album entstand. Es gab wohl um die 20 Versionen davon, bis er schlussendlich doch auf „Hideous Bastard“ landete. Bei The xx bin ich ein Drittel und wir haben unsere Karriere im Prinzip mit Live-Songs aufgebaut. Ich wollte aber etwas für mich herausfiltern, das Exklusive an mir finden und das geht nur außerhalb der Band. „Saccharine“ ist so ein Love-Song, den ich auf eine Art schreiben wollte, die mehr über mich und meine Beziehungen verrät, als ich es selbst sonst tun würde. Ich bin sehr achtsam, bei meinen Tracks nicht zu süß und nett zu klingen, aber hier ließ ich es einfach einmal geschehen. Der Sound ist nicht so weit von Romys Gitarre von The xx entfernt, denn ich liebe ihr Spiel. „Saccharine“ sagt mehr über mich als über Beziehungen im Generellen aus.

Es gibt eine Mantra-artige Wiederholung von bestimmten Phrasen im Song „Confident Man“. Wurdest du zu einem zuversichtlichen und selbstsicheren Musiker, während du an „Hideous Bastard“ gearbeitet hast?
Ich habe an Selbstsicherheit gewonnen, bin aber wohl noch weit davon entfernt, mich als selbstsicher bezeichnen zu dürfen. (lacht) Je länger ich an dem Album arbeitete, umso mehr Fragen tauchten dazu auf, aber das war okay. Ich kann heute offen sagen, dass ich nicht immer selbstsicher bin und stehe dazu. Ich versuche manchmal eine Maske zu tragen, um all das vorzutäuschen, aber es gelingt mir in der Realität dann doch nicht immer. Es ist nicht leicht zu erklären, aber ich fühle mich mitunter selbstsicher, weil ich zugebe, es nicht zu sein. (lacht)

Du hast dich im Songwritingprozess selbst erforscht und es war ja gar nicht geplant, dass daraus am Ende ein ganzes Album entstehen würde…
Ich hatte schon einige Songs beisammen, bevor ich überhaupt an ein Album dachte. Ich wusste noch gar nicht, worüber ich schreibe, bis ich den fünften oder sechsten Track fertig hatte und sich daraus ein Muster entwickelte. Es ging um Scham, Angst und Unsicherheit. Ich habe darüber aber nicht einseitig geschrieben und wollte nicht, dass das Album zu traurig und dunkel klingt. Als ich die einzelnen Songs durchhörte merkte ich, dass hier irgendetwas Besonderes passiert.

Gab es einen speziellen Moment in dem du gemerkt hast, hier könnte mehr entstehen als nur ein Haufen einzelner Songs?
Ich habe mich nicht zu einem Album verpflichtet, weil es mir lange zu übertrieben vorkam. Die Songs haben sich dann aber so entwickelt, dass sie einen roten Faden ergaben. Auch bei The xx hatten wir nie eine große Idee oder Meetings, wo wir aktiv an Songs arbeiteten. Unsere Tracks entstehen aus einer Serie von glücklichen Fehlern und Pannen, die dann zu einem Ergebnis führen. Das war bei „Hideous Bastard“ nicht anders.

Der Song „Fruit“ dreht sich um Selbstakzeptanz und eine positive Einstellung zu sich selbst. Hast du im Endeffekt inneren Frieden mit dir und deinen Problemen gefunden?
Ich bin in den letzten Jahren sehr lange Wege gegangen und habe viele Arten der Heilung versucht. Ich bin nicht mehr überwältigt von Angst und Scham, aber ich fühle diese Begriffe immer noch. Ich habe noch einen langen Weg zu beschreiten, wie viele andere auch, aber ich bin richtig unterwegs. Ich kann nicht einfach den Schalter umlegen und so tun, als würde ich mich frei und zufrieden fühlen und könnte locker auf die harten Zeiten zurückschauen. Ich kann aber heute über HIV reden und mit fremden Menschen wie dir Themen anschneiden, die sehr tief in mein Innerstes gehen - das wäre vor drei Jahren noch nicht einmal im Ansatz möglich gewesen. Das sehe ich als gute Entwicklung, aber ich kann diese Entwicklung nicht klar festmachen.

„Run The Credits“ ist am Ende des Albums eine klangliche Überraschung. Durch die fröhlichen Harmonien klingt der Song nach den Beach Boys und steht dem Rest deutlich hervor. Musstest du auch erst den Mut für diese Art von Musik finden?
In meinem Kopf ist dieses Album ein Film. „Run The Credits“ ist das klassische Ende dieses Films und textlich geht es um Freude, die von Melodien getragen wird. Ich wollte das Album nicht mit einem wütenden Song beenden, das wäre nicht richtig gewesen. Zu meinen absoluten Lieblingssongs als Fan gehören jene, zu denen ich an einem guten Tag tanzen und an einem schlechten Tag daheim weinen kann. Songs, die die gesamte Emotionspalette erwischen. Das wollte ich mit diesem Song erreichen. Ich wollte eine große Feier des Lebens und viel Freude ausstrahlen, auch ist sehr viel Humor darin, aber genauso Wut und Unentschlossenheit. Es ist einfach ein guter Pop-Song.

Die Videos zu den Songs sind auch sehr ausgeklügelt und haben einen unverkennbaren Hollywood-Touch. Warst du hauptverantwortlich für den visuellen Aspekt des Albums?
Ich wusste ungefähr, wohin ich gehen wollte und habe ein paar Träume und Wünsche aus meiner Kindheit umsetzen können. Das ist bei The xx nicht möglich, denn dort kann man zwar Teile umsetzen, aber am Ende ist es ein demokratischer Prozess unter drei Mitgliedern. Ich habe mich für die Videos mit Yann Gonzalez in Verbindung gesetzt, weil er aus dem Horrorgenre kommt, aber nicht nur schrecklich und angsteinflößend dreht, sondern auch augenzwinkernd und humorig. Ich wollte diese breite Palette an Farben in den Videos zeigen. Wie bei „Run The Credits“ versteht er es in seinen Filmen, Licht und Dunkelheit zu verbinden und damit etwas Fantastisches zu kreieren. Er bietet das volle Spektrum an Emotionen an und das hat mir gut gefallen. All meine Lieblingskünstler in und außerhalb der Musik, auch in Film, Mode oder sonstwo, kreieren mit ihrer Kunst eigene Welten. Ich habe ein sehr ehrliches Album gemacht und das muss nicht zwingend in einem ehrlichen und tiefgründigen Paket ausgeliefert werden. Die Verpackung und das Drumherum sollten auch Spaß machen.

Wirst du auch auf Tour gehen und diese Songs breitflächig live präsentieren?
Ich werde definitiv ein paar Konzerte dazu geben, aber meine Priorität liegt bei The xx. Das ist meine Heimat und dort befinden sich mein Kopf und mein Herz. Ich freue mich auch wieder auf die Zusammenarbeit, denn Romy hat ihr Soloalbum gefertigt, das komplett anders als meines klingt. Jamie hat selbst viel Musik veröffentlicht, die ganz anders klingt und jetzt bin ich gespannt, wie wir drei nach unseren Einzelausflügen mit neuen und frischen Ideen zusammen klingen. Wir werfen Ideen hin und her, aber haben bislang noch nichts aufgenommen.

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