Kritiker wandern aus

Russische Emigranten: „Als Verräter gebrandmarkt“

Ausland
01.04.2022 23:13

Hunderttausende Menschen verlassen ihre Heimat Russland - nicht nur, weil die westlichen Sanktionen das Leben schwieriger machen, sondern vor allem, weil sie gegen den von Präsident Wladimir Putin angezettelten Angriffskrieg gegen die Ukraine sind. Sie wollen sich nicht mit dem jetzigen Russland identifizieren und sehen keine Zukunft für sich. Die Angst vor staatlicher Verfolgung herrscht vor - immer härter wird durchgegriffen, es wird laut über eine Wiedereinführung der Todesstrafe nachgedacht. Zudem gibt es Gerüchte, dass Auswanderer nicht mehr ins Land gelassen werden sollen. Schon jetzt werden sie als „Verräter“ bezeichnet.

Ein Exil-Russe, der jetzt in Österreich lebt, sprach mit krone.at - er will anonym bleiben. Er ist mit zahlreichen Freunden und Bekannten in Moskau in Kontakt. Die meisten sind westlich orientiert und lehnen wie er Putins „Spezialoperation“ ab. Gutsituiert, sind sie auch nicht so sehr von den wirtschaftlichen Sanktionen des Westens betroffen. In den nächsten Monaten werde sich die Lage aber verschärfen und die Wirkungen der Strafmaßnahmen wirklich spürbar sein, befürchtet er. „Das Schlimmste kommt sicher noch“, ist der Mann überzeugt.

„Wir wissen nicht, was los ist“
Ärmere Russen sind aber schon jetzt schwer betroffen von den Sanktionen - durch die dadurch ausgelöste Rubel-Inflation wurden etwa Grundnahrungsmittel wie Zwiebeln und Zucker, Babynahrung und Medikamente empfindlich teurer. Der Großteil der Bevölkerung, der nur die staatlichen Fernsehsender mit der Regierungspropaganda sieht, kennt den Hauptgrund für die Sanktionen nicht. „Viele sagen mir, ,Wir wissen nicht, was los ist‘“, erzählt der Exil-Russe von Bekannten, die seiner Ansicht nach in einem „Informationsvakuum“ leben. „Ich weiß nicht, ob sie es ernst meinen. Vielleicht scheuen sie auch davor zurück, anzuerkennen, dass es wirklich Krieg gibt.“

Viele würden der jetzigen Rezession begegnen so wie einer anderen Wirtschaftskrise - von denen es allein in den letzten 30 Jahren mehrere gab. Nach dem Grund fragen sie nicht - noch nicht. „In den nächsten Monaten werden wir sehen, ob manche dann ihre Meinung ändern und versuchen zu sehen, was die Ursache für die Krise ist“, so der Russe, der jetzt in Österreich lebt, aber noch viel Kontakt mit Kollegen in seiner Heimat hat.

Wird Todesstrafe wieder eingeführt?
Aus Angst vor Putin wollen sich auch viele nicht äußern - oder tun das nur indirekt: Viele, die schon unter der Zensur im Sowjetregime gelebt haben, wissen, wie sie kommunizieren müssen. Sie haben aber auch Angst, etwas zu sagen. Die großen Protestwellen in den russischen Großstädten sind abgeebbt, die Polizei greift bei Demonstranten hart durch, wer sie auch nur berührt oder schief anschaut, wird festgenommen. Auch der Ton, den die Elite anschlägt, wird immer schärfer: Erst kürzlich schloss Dmitri Medwedew - Ex-Präsident und jetzt Vize-Sekretär des russischen Sicherheitsrates - nicht aus, dass die Todesstrafe wieder eingeführt werden könnte. Nach dem Ausscheiden aus dem Europarat sei man nicht mehr zur Aussetzung der Strafe verpflichtet, erklärte Medwedew.

Hunderttausende verlassen wegen dieser Zustände das Land. Das neue Online-Medium „OK Russians“ selbst gegründet von Exil-Russen, schätzt, dass seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine mindestens 300.000 Personen ihr Land verlassen haben. Die Plattform befragte 2067 Menschen nach den Gründen fürs Auswandern. Einer der Hauptgründe ist Ablehnung der russischen Aggression - viele wollen deshalb nichts mehr mit dem aktuellen Russland unter Putin zu tun haben. Auch die Angst vor Verfolgung oder Unterdrückung ist Antrieb für die Emigration. Viele sehen prinzipiell keine Zukunft in ihrem Land oder haben ihr Job verloren, da ihre Arbeitgeber wegen der Sanktionen aus der Russischen Föderation abgewandert sind.

IT-Fachkräfte verlassen das Land
Es gehen vor allem jene, die sich die Ausreise leisten können. So haben etwa 70.000 IT-Spezialisten haben im Februar und März Russland verlassen. Der russische IT-Branchenverband RAEC erwartet eine weitere massive Auswanderungswelle von 100.000 Fachkräften im April. Sie sind vielerorts dringend benötigte Fachkräfte. Populäre Ziele sind Armenien und Georgien, viele verschlägt es auch nach Istanbul.

Zahlreiche Prominente haben Russland ebenso verlassen, einige wortlos, wie die in der Sowjetzeit sehr populäre Sängerin Alla Pugatschowa. Andere sprachen sich öffentlich gegen den Krieg aus, etwa der Rockmusiker Boris Grebenschtschikow oder die Sängerin Zemfira. Der russische Hip-Hopper Oxxxymiron sagte wegen des Kriegs gegen die Ukraine sogar mehrere bereits ausgebuchte Konzerte ab, stattdessen kündigte er unter dem Motto „Russen gegen den Krieg“ Benefizkonzerte für ukrainische Flüchtlinge an, eines fand bereits in Istanbul, das eine große Community an Exil-Russen hat, statt.

„Verrat am eigenen Volk“
Im Ausland vernetzen sich die Emigranten. Auch der Russe, mit dem krone.at sprach, knüpft Kontakte mit Landsmännern und -frauen in Österreich und anderswo. „Viele sind jetzt orientierungslos, sie wissen, sie können nicht zurück, weil sie fürchten, als Verräter gebrandmarkt zu werden“, sagt er. In einem von der russischen Staatsagentur Ria Nowosti veröffentlichten Artikel warf Kolumnist Pjotr Akopow der „Elite“, die auswandern würde, „Verrat am eigenen Volk“ vor und gab damit die Position Putins wieder. Dieser hatte die Emigration als „natürlichen und notwendigen Prozess der Selbstreinigung unserer Gesellschaft“ genannt.

Russische Stars, die ihr Land verlassen haben, werden als „Aktivisten“ an den Pranger gestellt. So rief Mitte März Andrej Krasow, Vizechef des Verteidigungsausschusses in der Duma, dazu auf, Prominente, die Russland verlassen haben, nicht zurückkehren zu lassen. „Es hat sich herausgestellt, dass sie keine Bürger unseres Landes sind“, erklärte auf seinem Telegram-Kanal. Russland, „das sich um Wladimir Putin schart“, solle zu diesen „Aktivisten Nein sagen“, so Krasow. Die Emigranten hätten „die Prüfung für ihr Heimatland nicht bestanden“, schrieb der Duma-Abgeordnete.

Russische Flagge ohne Blut
Im Ausland versuchen sich die Russen gegenseitig zu helfen - bei vielen fraß die Ausreise die Ersparnisse auf, auch aufgrund des miserablen Rubel-Wechselkurses, berichtet „OK Russians“. Außerdem herrscht die Angst vor, wieder abgeschoben zu werden. Aber auch ukrainischen Flüchtlingen - den hauptsächlichen Opfern der russischen Aggressionspolitik - versucht man zu helfen. Viele russische Emigranten verspüren eine Kollektivschuld wegen des Kriegs. In zahlreichen Städten protestierten Exil-Russen lautstark gegen die Invasion. Sie schwenken eine neue Flagge, die Oppositionskräfte im Ausland entworfen haben: Weiß-blau-weiß, wie die russische Fahne, nur die rote Farbe fehlt - kein Bezug zu Blut, Krieg oder der Sowjetvergangenheit. „Sie soll das Zeichen eines neuen Russlands sein - vielleicht irgendwann“, so ein Exil-Russe.

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