Massive Unruhen

Kasachstan: Expertin erklärt, was gerade passiert

Ausland
06.01.2022 15:58

In Kasachstan kommt es zu den schlimmsten Protesten seit Jahren. Nach 30 Jahren Autokratie war die Verteuerung der Treibstoffpreise der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Zentralasien-Expertin Dr. Andrea Schmitz vom Deutschen Institut für Wissenschaft und Politik erklärt im „Krone“-Interview die Hintergründe.

„Krone“: Frau Dr. Schmitz, warum passiert in Kasachstan, was gerade passiert? Ist das etwas, dass schon lange in der kasachischen Bevölkerung schlummert und nun herausbricht?
Dr. Andrea Schmitz: Mehrere Faktoren kommen hier zusammen: Erstens die politische Stagnation im Land, das seit der staatlichen Unabhängigkeit, das heißt seit über 30 Jahren, de facto von einem Oligarchen-Netzwerk mit dem früheren Präsidenten Nursultan Nasarbajew an der Spitze regiert wird; zweitens die damit zusammenhängende eklatante sozio-ökonomische Ungleichheit, die sich in den vergangenen Jahren - auch durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie - noch verstärkt hat und die, drittens, für die Bevölkerung umso schwerer wiegt, als das Land über enorme Öl- und Gasvorkommen verfügt. Vor diesem Hintergrund war die überraschende Aufhebung der Preiskontrollen für das als Treibstoff beliebte Autogas - mit der Folge, dass sich der Preis gleich verdoppelte - der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und der den lange schon schwelenden Volkszorn entflammte. Aber es geht um mehr als nur um die Preissteigerung. Das lässt sich daran ablesen, dass die Proteste weitergingen, auch nachdem Präsident Tokajew angekündigt hatte, den Gaspreis wieder auf das bisherige Niveau zu senken.

Dass solche Proteste in einem autokratisch geführten Land wie Kasachstan möglich sind, ist doch eher bemerkenswert, oder?
Das Ausmaß, das die Proteste angenommen haben, ist in der Tat bemerkenswert, vor allem ist es ein Indiz dafür, wie viel an Frustration sich über die Jahre angestaut hat in Kasachstan. Und es ist kein Zufall, dass die Proteste im ölreichen Westen des Landes ihren Ausgang nahmen. Dort hatten im Dezember 2011 Ölarbeiter monatelang für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen gestreikt, bis die Polizei eingriff und mit harter Munition auf die unbewaffneten Demonstranten schoss. Viele von ihnen wurden getötet, hunderte verletzt. Wie lebendig die Erinnerung an diesen Gewaltexzess ist, lässt auch an den Aufrufen zu Solidarität mit den Westkasachstanern ablesen, die während der jüngsten Proteste laut wurden. Seither ist Protest in Kasachstan zu einer gängigen Form der politischen Willensäußerung geworden, so etwa anlässlich der Präsidentschaftswahlen im Mai 2019, bei denen Tokajew seinen politischen Ziehvater im Amt ablöste. Aber das Ergebnis dieser Wahlen war vorhersagbar gewesen und es war klar, dass ein politischer Neuanfang im Land nicht möglich ist, so lange Nasarbajew hinter den Kulissen politisch die Fäden zieht. Präsident Tokajew hatte damals einen Dialog mit der Bevölkerung versprochen, um die Protestierenden zu beschwichtigen. Der politische Aufbruch, den sich vor allem die jüngere Generation in Kasachstan wünscht, ist aber bislang ausgeblieben.

Bei der Verteuerung des Treibstoffs: Von wie viel Euro/Cent pro Maßeinheit reden wir da im Vergleich zu vorher. Und wie hoch ist der Durchschnittslohn?
Das Flüssiggas war bislang für rund 50 Tenge (ca. 10 Cent) pro Liter und damit deutlich unter dem Marktpreis verkauft worden. Mit der Aufhebung der Preisbindung am 1. Januar kostete der Liter plötzlich 120 Tenge. Bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 500 Euro - und das ist noch hochgerechnet - ist das ein erheblicher Preisanstieg, der ja auch den Warentransport verteuert und damit die Preise insgesamt in die Höhe treibt.

Es stürzten bereits Nursultan-Statuen. Wie gefährlich ist der Protest tatsächlich für die Machthaber? Und wie schätzen Sie Tokajew ein? Mit wie viel Gewalt schlägt er zurück?
Beim Sturz des Nasarbajew-Denkmals ist es ja nicht geblieben. Mittlerweile hat Präsident Tokajew angekündigt, dass Nasarbajew seinen Vorsitz im Nationalen Sicherheitsrat abgegeben hat - und damit ein Amt, das ihm auch nach seinem Rücktritt Anfang 2019 noch maßgebliche Entscheidungsbefugnisse sicherte. Dieser Akt ist ein Aufbruchssignal und ein politisches Versprechen - das Tokajew jetzt aber unter Zugzwang setzt. Gewalt ist natürlich immer eine Option, aber jetzt ist Politik gefordert - und ich denke, dass Präsident Tokajew und die klügeren seiner Berater das wissen.

Rein hypothetisch: Die Proteste haben Erfolg und Tokajew und Nasarbajew werden gestürzt. Was dann? Gibt es eine Integrationsfigur in der Opposition?
Eine solche Integrationsfigur sehe ich nicht. Zudem steht ein Rücktritt von Präsident Tokajew im Moment gar nicht zur Debatte.

Kann das einen Dominoeffekt auf die anderen Ex-Sowjetrepubliken in Zentralasien haben?
Sehr unwahrscheinlich. Die Verhältnisse in den Nachbarländern sind doch recht verschieden von denen in Kasachstan.

Wie ist Ihre Einschätzung zur Zukunft Kasachstans?
Mit kosmetischen Veränderungen wird sich die zunehmend aufbruchsorientierte Generation in Kasachstan auf Dauer nicht mehr pazifizieren lassen. Die politische Elite des Landes ist aufgefordert, sich ernsthaft Gedanken über einen zukunftsfähigen Sozialvertrag zu machen. Das heißt, sie wird umdenken und glaubwürdige Angebote für politische Reformen vorlegen müssen. Das wird ein schwieriger Prozess, denn die Beharrungskräfte sind enorm.

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