Neues Album „30“

Superstar Adele: Willkommen im Erwachsenenleben

Musik
18.11.2021 06:00

Auf ihrem vierten Album, dem ersten seit sechs Jahren, zeigt sich Englands Jahrhundertstimme Adele so verletzlich, melancholisch und selbstkritisch wie nie zuvor. „30“ ist aber keine klangliche Abrechnung mit ihrem Ex-Mann, sondern ein tiefes Graben in der eigenen Seelenwelt und ein Plädoyer für Selbstverwirklichung. Noch nie hatten Hits so viel emotionales Gewicht.

(Bild: kmm)

Wenn Schmerz Kunst bedeutet, dann ist Adele seit jeher die Botin überbordender Kreativität. Ihre größten Hits wie „Hello“, „Someone Like You“ oder „Set Fire To The Rain“ stammen aus schwierigen Phasen oder persönlichen Befindlichkeitskrisen. Das macht Adele im hochkommerziellen Segment aber auch seit jeher zu einem „buddy in crime“ für uns Ottonormalverbraucher. Noch nie konnte man das besser vergleichen als diesen Herbst, wo so gut wie alle Superstars mit Neuveröffentlichungen die Corona-Tristesse durchbrechen. ABBA führen uns in die unschuldige Nostalgiewelt der 70er-Jahre, Ed Sheeran verpackt sein Erwachsenwerden in seinen klassisch pausbäckigen Pub-Humor, Coldplay haben musikalisch und inhaltlich jegliche Bodenhaftung verloren und Helene Fischer tastet sich zwar zaghaft an gesellschaftskritischen Botschaften heran, bleibt in ihren Songs aber dann doch lieber in der Beliebigkeit verhaften. Und dann haben wir da Adele, die Londoner Samtstimme, Oscar-, Golden Globe- und 15-fache Grammy-Gewinnerin, die von ihren drei bisherigen Alben mehr als 100 Millionen Stück absetzen konnte.

Völliges Offenlegen
Adele wurde schnell zur größten, intensivsten und wichtigsten Stimme des neuen Jahrtausends. Nach dem tragischen und viel zu frühen Ableben von Amy Winehouse befindet sie sich ohnehin allein auf weiter Flur. Doch hinter der unbändigen Kraft ihres Organs versteckt sich eine zerbrechliche Verletzlichkeit, die automatisch einen Schutzmechanismus im Hörer auslöst. Vor zwei Jahren gab sie über eine Presseaussendung die Scheidung von Simon Konecki bekannt. Die Hoffnung, dass ihr Privatleben so im Hintergrund gehalten werden würde wie bisher, entpuppte sich als unrealisierbare Wunschvorstellung und die Social-Media-Polizei spekulierte wild. Es war logisch, dass daraus Musik entstehen müsse und so bezeichnete die heute 33-Jährige ihr viertes Album „30“ in einem Instagram-Live-Posting selbst als Scheidungswerk. Fertiggestellt hat sie es schon in den Anfängen der Pandemie, doch vielleicht war es für die Künstlerin selbst auch gut, es noch ein bisschen sacken zu lassen. Doch am Ende des Tages ist „30“ doch wieder ein klassisches Adele-Album und das bedeutet nichts anders, als dass sie ihre Gefühle, Sorgen, Gedanken und Emotionen zu 120 Prozent offenlegt.

Die vorab veröffentlichte Single „Easy On Me“, die sich weltweit sofort an die Chartspitze katapultierte, ist dabei die zugänglichste Ballade, denn rund um diesen vorprogrammierten Erfolg fährt die Britin brutal schwere Kost auf. Auf die Tränendrüsen drückende Schlüsselsongs gibt es gleich mehrere. Schon der Opener „Strangers By Nature“ überrascht mit einem 30er-Noir-Chic und beinhaltet die wegweisende Textzeile „All right then, I’m ready“. Adele ist bereit ihr Herz zu öffnen und lädt zur kurvenreichen Tour de Force. Im jazzig-angehauchten „My Little Love“ hört man nicht nur Sprachsamples zwischen ihr und ihrem neunjährigen Sohn Angelo, sondern am Ende des Songs auch echte Tränen. „I feel that I don’t really know what I’m doing“ gibt sie zu, „Mama’s got a lot to learn“. Adele geriert sich planlos und überfordert. Wie umgehen mit dem Zerbrechen des Familienglücks, obwohl die Scheidung relativ glimpflich ausging und die entzweiten Parteien Freunde blieben?

Hart ins Gericht
Schon früh auf „30“ wird klar, dass das Album alles andere als eine Abrechnung ist. Es geht vielmehr um die eigenen Unzulänglichkeiten. Die Unsicherheiten und Probleme, die Adele während der Ehe und ihres Erwachsenwerdens im Rampenlicht erst langsam gewahr wurden. „I Drink Wine“ kommt mit zarten Pianoklängen und Adeles Stimme aus. „I gotta learn to get over myself, learn to be somebody else“. Für die emotionalen und balladesken Momente lässt sich Adele gut und gerne sechs Minuten Zeit. Trauer und Selbstreflektion lassen sich nicht in ein enges Korsett wickeln. „We become a version of the person we don’t even like.“ Immer wieder geht sie hart mit sich selbst ins Gericht. Hinterfragt ihre Rolle als Ehefrau, Mutter und Familienmensch. So als würde sie sich öffentlichkeitswirksam für sich selbst und ihre eigene Vergangenheit entschuldigen. Doch all die schweren Momente sind nur Bausteine für das letzte Albumdrittel, indem Adele stimmlich und inhaltlich noch einmal zur absoluten Hochform aufläuft.

In „Hold On“ kehrt sie zu alter Stärke zurück. Erst am zehnten von zwölf Songs schwingt sie sich stimmlich in derart lichte Höhen, die ihre einzigartige Karriere erst so strahlend zu glänzen brachten. „How do I feel so mighty small, when I’m struggling to feel at all?“ fragt sie sich selbst und lässt vor zartem Pianospiel eine kräftige Portion Selbstkritik durchklingen. Doch all das ist nur die Vorbereitung für „To Be Loved“, den neben „Easy On Me“ fraglos stärksten Song des Werkes, der auch ihr bislang längster und möglicherweise traurigster ist. „Let it be known that I tried“ wiederholt sie darin brüchig und mantraartig, „It’s about time that I face myself, all I do is bleed into someone else“. Hier zieht sie noch einmal alle Register und lässt den Hörer fast schon körperlich spürbar teilhaben an all den Unsicherheiten, Selbstzweifeln und Problemen, die sie jahrelang belastet haben. Kein Wunder, dass sie mit dem sanften „Love Is A Game“ noch einen weiteren Song hintangestellt hat, denn so bedrückend kann man noch nicht einmal ein Breakup-Album enden lassen.

Immer weiter
Die positiven und fröhlichen Momente muss man bei „30“ mit der Lupe suchen, aber sie verstecken sich in einem kurzen Songblock in der Mitte des Albums. Das soulige „Cry Your Heart Out“ kommt deutlich lebensbejahender aus dem Äther als der Titel vermuten lässt, „Oh My God“ hat mit seinem poppigen Klatschrhythmus definitiv Hitpotenzial und das von einer Akustikgitarre eingeleitete „Can’t Get It“ erweist sich als leuchtende Insel in einem Meer der Melancholie. Kein Wunder, dass genau dieser Track von Pop-Legebatterien-Produzent Max Martin veredelt wurde. Gospelchöre und -Anleihen sind bewusst eingesetzte und wiederkehrende Elemente und in „All Night Parking“ hört man sogar eine populäre Trap-Hi-Hat. Das passt natürlich so gar nicht rein, beweist aber, dass man händeringend nach erhebenden Momenten im breiten Tal der klanglichen Schwere gesucht hat. Am Ende bleibt ein Knoten im Magen, aber auch die Gewissheit, dass sich Adele auf „30“ von ihren Dämonen befreit hat und nun in ein neues Lebenskapitel schreitet. Es geht weiter, immer weiter. So dunkel die Zeiten auch sein mögen. Und Adele ist uns damit wieder näher, als sie es sich vermutlich selbst zutrauen würde.

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