Rund 11.500 Fans feierten Mittwochabend ihre Helden von Simply Red in der ausverkauften Wiener Stadthalle. Mick Hucknall und Co. waren zum 40er ihrer Blue-Eyed-Soul-Band mit einer Hit-Revue unterwegs, die keine Wünsche offenließ. Das Publikum zeigte ich regelrecht begeistert.
Die größte Freude eines Fans ist oft gleichbedeutend mit dem puren Grauen für den Künstler selbst. Nirgendwo sonst ist die Diskrepanz in der gewünschten Umsetzung größer, als wenn es um Livekonzerte altgedienter Legenden geht. Da die Musiker, deren fruchtigste Jahre Dekaden zurückliegen und die ihre durchaus guten aktuellen Alben gerne stärker ins Zentrum stellen würden, aber an der eigenen Vergangenheit zerschellen. Dort die Fans, die genau dafür sorgen, indem sie zwar pflichtbewusst zum neuen Werk greifen, nach eineinhalb Durchläufen am Wohnzimmerplattenspieler dann aber doch lieber eine Zeitreise nach anno dazumal machen, als ihre Helden knackig, die Haare dichter und die Songs taufrisch waren. Große Hits sind für Künstler oft Fluch und Segen. Gleichermaßen Karriere-Türöffner wie in Ton gegossene Innovationsstoppschilder. All das ist aber vor allem eine Frage des eigenen Umgangs mit der thematischen Materie.
Mutiger Einstieg
Die Blue-Eyed-Soul-Legenden Simply Red etwa stecken in diesem Zwiespalt, haben sich auf dieser Entscheidungskreuzung aber für den dritten Weg entschieden: kollektive Freude. Diese verspüren Band und Fans angesichts der aktuell laufenden 40-Jahre-Jubiläumtour gleichermaßen. Mit den letzten Studioalben müssten sich Mick Hucknall und Co. nicht verstecken, zur großen Jubelreise dürfen aber ausschließlich die absoluten Kracher stattfinden. Das letzte Wien-Stelldichein vor drei Jahren war genauso ausverkauft wie heute. So flott und funky wie die Show 2022 wird es heute nicht, das zeigt sich schon am Anfang. Mit der zähflüssigen Nummer „Sad Old Red“ in einen Konzertabend zu starten ist zumindest mutig. Mit „Jericho“ und dem ersten von gleich sechs Cover-Versionen des Abends, „Money’s Too Tight (To Mention)“, steigt der Energiepegel im Publikum dann doch recht schnell.
Seine Wien-Liebe erklärt der Frontmann schon am früh am Abend, angeblich sei sogar seine Ehefrau in der österreichischen Bundeshauptstadt geboren, was für einen Großteil der Anwesenden doch ein bislang unbekanntes Bonmot aus der ansonsten reichlich erzählten Lebensgeschichte Hucknalls ist. Den großen Verführer, der in seinem Leben angeblich mit 1000 Frauen geschlafen habe, nimmt man ihm mit 65 nicht mehr ab, im dunklen Samtsakko und mit den in alle Richtungen stehenden roten Locken hat er aber auch im frischen Pensionsalter noch etwas Juveniles, Unverbrauchtes an sich, wie man es nur von echten Rockstars kennt. Mit seiner sechsköpfigen, musikalisch alle Register ziehenden Band hat der Frontmann ein Rhythmus-Fundament um sich herum aufgebaut, das ihm den nötigen Platz zur Performance verleiht. Hucknall singt seine Songs nämlich nicht, er fühlt und spürt, liebt und verehrt sie. Die Tour-Grippe, die ihm unlängst live in Deutschland zu schaffen machte, scheint ausgestanden zu sein, wodurch seine stimmliche Range wieder das Maximum erreicht.
Sympathischer Geschichtenerzähler
Zwischen den Hits lässt uns der 65-Jährige an Geschichten aus seinem Leben teilhaben. So erfahren wir, dass das flotte „A New Flame“ einst in der Karibik aufgenommen wurde, „You’ve Got It“ mit dem bereits verstorbenen Sänger und Songwriter Lamont Dozier entstand, der offenbar an 20 amerikanischen Nummer-eins-Songs mitwirkte und der abschließende Top-Hit „Holding Back The Years“ mit zarten 17 Jahren der zweite Song überhaupt war, den Hucknall in seiner beeindruckenden Karriere geschrieben habe. Soll noch einer sagen, vom Kinder-Schlafzimmer aus ließe sich keine anständige Karriere kreieren … die rund 105-minütige Show ist nicht nur eine mit überraschend gutem Sound veredelte Best-Of, sie ist auch ein Statement für zeitlose Musik und die Kraft von Hits, derer es zuhauf zu belauschen gibt. Zwischen dem Barry-White-Cover „It’s Only Love“ und dem eigen geschriebenen „Stars“ liegen kompositorisch Welten, in der Live-Umsetzung flutschen die unterschiedlichen Songs mit den verständigen Tempi aber wie von selbst ineinander.
Das liegt nicht zuletzt an Hucknalls großartiger Backing-Band. Der Schock über den Verlust des Ende 2024 verstorbenen und langjährigen Bassisten Steve Lewinson bohrte sich schwer in die seelischen Knochen des Sängers, Neuzugang Orefo Orakwue ersetzt ihn solide und ohne große Spompanadeln. In Songs wie „Enough“ oder dem spritzigen „Something Got Me Started“ sind es vor allem die flotten, präzise gespielten Saxofon-Soli von Ian Kirkham, die den Hit-Wurlitzer zwischendurch ein bisschen einbremsen. Und natürlich die hohe Dichte an Balladen, die Hucknall mit viel Stimme und noch mehr Charisma veredelt. „If You Don’t Know Me By Now“, der Stylistics-Kultsong „You Make Me Feel Brand New“ oder „Say You Love Me“ steigen bewusst aufs Bremspedal, um den Facettenreichtum der Band zu zeigen. Wenn es schneller wird, rockt die Halle. Besonders „Sunrise“ und „Fairgrund“ haben es den Fans angetan.
Gelungene Hit-Revue
Immer wieder beeindruckend ist zudem die Tatsache, wie sich Hucknall die unterschiedlichen Coverversionen durch seine ureigene Herangehensweise schnappt und die Songs damit zu seinen eigenen destilliert. Die Fans danken es ihm mit Hingabe und Textsicherheit. Zwischen all den wundervollen Soul-Nummern gibt es ausreichend Raum für Funk, Pop und jazzige Versatzstücke. Die gut geölte Maschinerie wirkt trotz all der zur Schau gestellten Perfektion human und vereint. Zum Soul gehört schließlich das richtige Gefühl, das sich nur in der theoretisch fehlbaren Zusammenarbeit zwischen Menschen erspüren lässt. Gespürt haben die Fans im Vorprogramm auch Lokalmatador Julian le Play bei einem seiner bislang größten Auftritte in der Öffentlichkeit. Die Hit-Revue von Simply Red ist jedenfalls vollständig gelungen – und mit derart euphorischem Publikumsfeedback fällt es auch den Künstlern etwas leichter, bei ihrer Best-Of-Werkschau temporär von neuem Material Abstand zu nehmen.
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