Die „Staubfrau“

„Ich hätte nie gedacht, dass Überleben so wehtut“

Ausland
10.09.2021 06:00

Ihr Bild ging um die Welt: Marcy Borders, eingehüllt vom Staub des Todes. In ihrem Gesicht: Entsetzen und Hoffnung. Die Frau wurde zum Symbol der Überlebenden des Terroranschlages auf das World Trade Center. 2015 starb sie an Krebs, höchstwahrscheinlich die Folgen des giftigen Staubes, der damals ihren Körper bedeckte. Die „Krone“ besuchte Marcy Borders im Jahr 2002, knapp 12 Monate nach dem Anschlag. Ein Beitrag aus dem Archiv.

Eine Schlafstadt am anderen Ufer des Hudson Rivers: Bayonne, New Jersey. Adrette Häuserfronten, biedere Kleingärten. Da, wo der Highway C immer schäbigere Fassaden zum Vorschein bringt, wohnt Marcy Borders. „Wir haben sie seit Tagen nicht mehr gesehen“, sagen uns Nachbarn und schütteln den Kopf. Marcy sperrt sich ein. Marcy isst nicht mehr. Marcy lacht fast nur noch, wenn sie hysterisch ist.

Hochhäuser bedrohen sie im Schlaf
Auf den Stiegen des finsteren Appartementhauses liegt Abfall, hinter den Türen ohne Namensschilder und Glocken hören wir Hip-Hop-Musik - und kleine Kinder weinen. Die Luft ist stickig und stinkt. Marcys Wohnung liegt im dritten Stock, über dem Eingang hängt die amerikanische Flagge. God Bless America. Marcy öffnet die Tür, fängt sofort an zu weinen. „Aus Wien kommt ihr? Den ganzen Weg zu mir?“, fragt sie ungläubig. „Gibt es dort denn auch Hochhäuser?“ Hochhäuser bedrohen sie fast jede Nacht im Schlaf. Hochhäuser sind ihr Schicksal. Nie mehr in ihrem ganzen Leben wird sie Hochhäuser betreten können.

Am 11. September 2001, um 8 Uhr morgens, steht die Afroamerikanerin im 81. Stock des World Trade Centers am Kopierer, als sich über ihr, zwölf Etagen höher, das erste Flugzeug in den Nordturm bohrt. Der Tower beginnt zu schwanken. Die Büroassistentin bei der „Bank of America“ denkt sofort an eine Rakete, an Krieg. Marcy wird von Panik erfasst, beginnt zu laufen: 81 Stockwerke liegen vor ihr, sie rennt wie eine Wahnsinnige nach unten, immer nach unten. „Alle wollten mich aufhalten“, erzählt sie atemlos und unter Tränen, „jetzt spiel bloß nicht verrückt, Lady, meinten sie und tranken weiter seelenruhig ihren Kaffee. Es hat uns doch nur ein kleines Flugzeug gestreift!“ Marcy aber schreit: „Dieser Turm wird einstürzen!“ Rennt weiter nach unten. Im 44. Stock will ein Ordnungshüter sie aufhalten. Sie schlägt wild um sich, schreit, stürzt sich weiter die Treppen runter. „Ich bin um mein Leben gelaufen“, sagt sie leise, „aber manchmal denke ich mir, ich wäre lieber dort unter den Trümmern begraben worden ...“

Totenstille im kleinen Living Room, nur die Aircondition brummt. Am Boden hat sie Garderobe in Plastiksäcken gestapelt, an der Wand hängen Zeichnungen ihrer kleinen Tochter: Noelle, neun Jahre, lebt beim Vater. Noelle versteht nicht, wieso Mama so viel weinen muss. „Wenn ich tot wäre“, sagt Marcy, „dann würde mein Kind jetzt wenigstens die Entschädigung bekommen ... Ich hätte nie gedacht, dass Überleben so wehtun kann.“

Marcy träumt vom Krieg
Seit sie als „Staubfrau“ durch die Medien geisterte, ist Marcy berühmt. Aber ihr Leben ist ein Albtraum. Marcy träumt von Flugzeugen und vom Krieg. In ihrem Kopf dröhnt es noch heute, ein Jahr nach dem Terrorangriff auf das Wahrzeichen der westlichen Welt, ganz laut. „Es hört einfach nicht auf“, sagt Marcy und klopft sich auf die Schläfen, „ich habe solche Angst vor dem 11. September 2002. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht wach bleiben. Ich würde eigentlich Hilfe brauchen. Aber dieses Land gewährt sie mir nicht.“

„Ich bin nicht mehr stolz, Amerikanerin zu sein“
Marcy hat um psychologische Betreuung angesucht, aber ihre Formulare kamen zurück. Sie möge doch Beweise vorlegen, dass sie am 11. September 2001 im World Trade Center gearbeitet habe. Aber dazu ist Marcy zu schwach. Auch der Aufforderung ihres Arbeitgebers, einen Ersatzjob anzunehmen - nur eine Woche nach der Katastrophe - konnte sie nicht nachkommen. „Ich traue mich nicht mehr rüber nach Manhattan“, sagt Marcy. „Ich könnte keine U-Bahn mehr betreten. Keine Brücke. Kein Hochhaus. Nie mehr.“ Marcy hat Panik-Attacken, ist arbeitsunfähig. Manchmal trinkt sie sich ihre Tage schön. Sie ist arbeitslos. Und weil sie nichts verdient, kann sie auch ihre Krankenversicherung und Telefonrechnung und Miete nicht mehr bezahlen. Ein Teufelskreis. „Ich habe aufgegeben“, sagt sie, „denn ich bin nur ein Niemand. Ich zähle nicht. Ich habe aufgehört, an dieses Land zu glauben. Ich bin nicht mehr stolz, Amerikanerin zu sein.“

Marcy geht zu den Kleiderbergen und wühlt ganz aufgeregt darin. „Hier ist es!“, ruft sie und zieht das zerknitterte, schmutzige Kostüm, das sie am 11. September getragen hat, aus einer Plastiktasche. Wildlederstiefel, die einmal schwarz waren, beigefarbener Mini, dunkles Top, Tuch. Über allem eine dicke, matte Staubschicht. Marcy küsst die Kette, die sie an jenem Morgen umgelegt hat. Und beginnt erneut zu weinen. „Oh Gott“, jetzt schnappt sie nach Luft, „riechen Sie das? So hat es gerochen, als ich die Treppen hinuntergelaufen bin.“ Nach Feuer, nach Staub, nach Tod. Immer wieder, erzählt Marcy, sei sie gestolpert, hingefallen, wieder aufgestanden, weitergelaufen.

Weinende Feuerwehrmänner und Staub
Nach einer Stunde und zwanzig Minuten erreicht Marcy den Ausgang. Wenige Minuten später kracht hinter ihr der Südturm zusammen. Eine riesige Staubwolke erfasst sie, Marcy hält den Atem an, denkt kurz ans Sterben. Langsam wird sie erfüllt von der Gewissheit, überlebt zu haben. Es hat sich gar nicht schön angefühlt, sagt Marcy. Sie erinnert sich an Leichenteile und weinende Feuerwehrmänner und Staub. Zu Fuß marschiert sie wie in Trance nach Hause, hinüber nach New Jersey. Neun Stunden lang schaut sie nur noch gerade aus, nicht mehr zurück.

Um 18 Uhr kommt sie in ihre Wohnung und weiß: „Ich habe Glück gehabt. Aber es wird mich noch todunglücklich machen.“ Wie ein Kind, das seine Mutter verloren hat, fühle sie sich heute, sagt Marcy. Von Gott verlassen. Mutterseelenallein. Sie träumt von einem Land, in dem es keine Wolkenkratzer und keinen Terror gibt. Dorthin würde sie gern übersiedeln, ihrer kleinen Tochter ein neues Zuhause geben. Das Dumme, sagt Marcy, ist nur, dass ich die gottverdammten Erinnerungen nicht zurücklassen kann.

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