War zwölf Mal vor Ort

„Bild“-Vizechef: Dem Westen war Afghanistan egal

Ausland
17.08.2021 06:00

Tausende Menschen versuchen dieser Tage, aus Afghanistan zu fliehen. Vielen droht nach der erneuten Machtübernahme der Taliban der Tod. Viel zu lange hat der Westen in Afghanistan die Augen verschlossen und haben Regierungen versucht, das Thema kleinzuhalten. Jetzt ist es zu spät. 

Die Menschen, die mit ihren Familien fliehen wollen, weil sie in Kabul von den Taliban gejagt werden, haben auch Montagnacht wieder nicht schlafen können. Sie haben sich auf dem Flughafen versammelt, aber es gibt nicht genügend Flieger, um alle evakuieren zu können.

„Die Taliban gehen von Tür zu Tür“
Ein Mitarbeiter der afghanischen Regierung, den ich noch vor drei Wochen im Präsidentenpalast getroffen habe, schreibt mir am Montagmorgen in Panik: „Ich bin auf dem Flughafen, aber sie lassen uns nicht rein, wir wissen nicht, an wen wir uns wenden können. Die Uhr tickt, Taliban gehen von Tür zu Tür.“ Noch vor wenigen Wochen war er, war sich der Präsident sicher, dass sie zumindest die Millionenmetropole Kabul verteidigen können. „Ich werde nicht gehen!“, sagte Ghani bis zuletzt. Um dann als einer der Ersten ein Flugzeug nach Tadschikistan zu besteigen. Und den Taliban den Präsidentenpalast zu überlassen.

Am Montag spielten sich am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul tumultartige Szenen ab, als zahlreiche Menschen versuchten, Afghanistan zu verlassen. (Bild: AFP)
Am Montag spielten sich am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul tumultartige Szenen ab, als zahlreiche Menschen versuchten, Afghanistan zu verlassen.

Taliban wollen wieder die Scharia umsetzen
Was der Westen nicht sehen wollte, was alle Geheimdienste falsch bewertet haben, haben die Taliban vorausgesehen. Ende Juli saß ich mit Taliban-Kämpfern zusammen, die mir erklärten: „Wir werden bis nach Kabul marschieren und dort unsere Scharia umsetzen.“ Was sie meinen: Dieben wird künftig im ganzen Land die Hand abgehackt, Homosexuelle werden gesteinigt und Frauen eingesperrt. „Frauen dürfen raus, wenn sie zum Beispiel Tiere füttern müssen“, sagte ein Taliban-Richter zu mir.

Der „Bild“-Vize war bereits zwölf Mal als Reporter in Afghanistan, zuletzt vor drei Wochen. (Bild: Paul Ronzheimer)
Der „Bild“-Vize war bereits zwölf Mal als Reporter in Afghanistan, zuletzt vor drei Wochen.

Warnung an den Westen: „Mischt euch nicht ein“
Dass der Westen mit all seinen Truppen so überstürzt abgezogen ist, war der entscheidende Faktor für die Taliban, dass der Vormarsch so schnell klappen konnte. „Wir sind froh, dass ihr abgezogen seid, und wir werden euch nichts tun, solange ihr euch nicht einmischt“, sagte der Kämpfer. „Nicht einmischen“ – das bedeutet für die Taliban, dass der Westen sich raushalten soll, wenn jetzt das Morden beginnt. Im Visier sind all die modernen Menschen des Landes, die für die Regierung gearbeitet haben oder für NATO-Staaten.

„So vielen meiner Freunde droht der Tod“
Mariam ist eine der jungen Politikerinnen, die ihr Land verändern wollten. „Es ist der schlimmste Tag in meinem Leben“, sagte die Politikerin mir am Montag, „ich versuche, irgendwie nach Indien zu kommen, aber so vielen meiner Freunde droht der Tod!“ Auf dem Flughafen in Kabul haben jetzt US-Kräfte das Kommando übernommen. Tausende versuchen, in die wenigen Flieger zu kommen, die es gibt. Kontrollen gibt es nicht mehr. Wer die Bilder sieht und gleichzeitig die Ankündigungen aus Österreich, dass Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) weiterhin in dieses Land abschieben will, fragt sich: Wo sollen Abschiebe-Flieger noch landen?

Die Taliban patrouillieren die Straßen der afghanischen Hauptstadt Kabul, wo sie mittlerweile die Kontrolle übernommen haben. (Bild: AP)
Die Taliban patrouillieren die Straßen der afghanischen Hauptstadt Kabul, wo sie mittlerweile die Kontrolle übernommen haben.
Taliban-Kämpfer bewachen den Präsidentenpalast in der afghanischen Hauptstadt Kabul, wo die geplante Evakuierung im Chaos endete. (Bild: AP)
Taliban-Kämpfer bewachen den Präsidentenpalast in der afghanischen Hauptstadt Kabul, wo die geplante Evakuierung im Chaos endete.

Westen „kaum mit der Situation befasst“
Tatsächlich hat sich der Westen auch in den vergangenen Monaten kaum mit der Situation in Afghanistan befasst, viele Regierungschefs haben versucht, das Thema bis zuletzt kleinzuhalten. Jetzt ist das Chaos so groß, dass eine Fluchtbewegung zunächst Richtung Iran, über die Türkei bis nach Europa kaum aufzuhalten ist. An „Sicherheitsgarantien“, über die jetzt die Taliban sprechen, glaubt im Land niemand.

Ein Freund aus Kabul, der es ebenfalls noch nicht rausgeschafft hat, schrieb mir: „Die Taliban machen große Versprechungen, um den Westen dazu zu bewegen, weiter Millionen ins Land zu pumpen. Das Morden und der Horror beginnen ganz langsam, und irgendwann wird jeder sehen, welchen Monstern wir unser Land überlassen haben.“

Zur Person:

Paul Ronzheimer ist Vize-Chefredakteur der deutschen „Bild“-Zeitung. Er war zwölf Mal als Reporter in Afghanistan, das letzte Mal vor drei Wochen beim Abzug der deutschen und amerikanischen Truppen.

Ein Gastbeitrag des stellvertretenden „Bild“-Chefredakteurs Paul Ronzheimer

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