„Musterschüler“

London-Täter dankte Sozialarbeitern mit Gedicht

Ausland
02.12.2019 12:40

Nach dem Anschlag mit zwei Toten in London ist in Großbritannien eine Debatte über die routinemäßige vorzeitige Entlassung von Häftlingen entbrannt. Der Attentäter Usman Khan, der am Freitag zwei junge Menschen nahe der London Bridge mit Messern tötete, war ein verurteilter Terrorist - der ohne vorherige Haftprüfung vorzeitig auf freien Fuß gekommen war. Besonders brisant: Khan galt als „Erfolgsgeschichte“ und „Musterschüler“, der lächelnd auf einem Foto in einer Broschüre jenes Resozialisierungsprogramms der Cambridge Universität zu sehen. Der Terrorist verfasste gar ein Gedicht, um sich bei seinen Helfern für ihre Unterstützung zu bedanken …

Der 28 Jahre alte Usman Khan hatte am Freitag zwei Menschen, die 23-jährige Kriminologie-Studentin Saskia Jones und den 25-jährigen Jack Merritt, erstochen und mehrere weitere Menschen verletzt. Merritt war einer der Kursleiter jener Veranstaltung für Ex-Häftlinge in der Fishmongers‘ Hall, die auch Khan besucht hatte - und die zum Ausgangspunkt seines blutigen Terrors wurde.

Als Khan aus dem Gebäude auf die London Bridge flüchtete, wurde er von mehreren Zivilisten - darunter auch ein verurteilter Mörder und ein mit einem Stoßzahn eines Narwals bewaffneter polnischer Koch (siehe auch Video unten) - überwältigt und von der Polizei erschossen. Der Terrorist trug einen Sprengstoffgürtel, der sich später als Attrappe herausstellte.

Wie mittlerweile bekannt wurde, war der wegen Anschlagsplänen verurteilte Terrorist vor einem Jahr auf Bewährung vorzeitig entlassen worden. Usman Khan hatte einen Anschlag auf die Londoner Börse geplant, bevor er 2012 zu einer unbefristeten Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Später wurde das Urteil auf 16 Jahre Haft abgeändert mit automatischer Entlassung nach der Hälfte der Haftzeit. Als Auflage musste er eine elektronische Fußfessel tragen.

Wie konnte verurteilter Terrorist Anschlag im Herzen Londons verüben?
Für große Diskussionen sorgt wenig überraschend jetzt die Frage, wie ein bereits verurteilter Terrorist einen Anschlag durchführen konnte. Fest steht: Die Entlassung Khans war routinemäßig erfolgt. Die zuständige Kommission (Parole Board) teilte mit, sie sei nicht an der Entscheidung beteiligt gewesen - eine Prüfung vor der Entlassung Khans gab es somit nicht. Außer Usman Khan seien etwa 74 weitere wegen terroristischer Aktivitäten verurteilte Gefangene vorzeitig entlassen worden. Diese Fälle würden nun überprüft, wie Premierminister Boris Johnson am Wochenende erklärte.

Indessen wird auch Khans Leben - und vor allem seine Verbindung zum Resozialisierungsprogramm „Zusammen Leben“ der Cambridge Universität - bis ins letzte Eck durchleuchtet. Was dabei von britischen Medien zutage gefördert wird, ist ernüchternd. Denn wie sich herausstellte, galt Khan bei „Zusammen Leben“ als „Erfolgsgeschichte“, wurde quasi als Musterschüler in Sachen Rehabilitierung gehandelt, der dabei ermutigt wurde, sich nach seiner Freilassung für einen Studienplatz zu bewerben.

Mit Musterschüler Khan für Resozialisierungsprogramm geworben
So ist Khan sogar lächelnd in einer Broschüre zu sehen, in der mit seiner offensichtlichen Rehabilitation als Fallstudie zur Förderung des Resozialisierungsprogramms geworben wird, wie der „Daily Telegraph“ berichtete. Neben dem Bild des Terroristen ist dort zu lesen: „Wir haben Usman mit einem Chromebook (Laptop; Anm.) ausgestattet, damit er sein Studium und sein Schreiben fortsetzen kann, das er in Whitemoor (dem Gefängnis, in dem er seine Strafe absaß, Anm.) begonnen hat.“ Und sogar der Dankesbrief, den Khan den Organisatoren - die zur Finanzierung des Computers einen Charity-Run gelaufen waren - schrieb, wurde in der Broschüre abgedruckt.

Khans Dankesbrief inkludierte auch ein Gedicht: „Ich schreibe, damit meine Worte zu einem beruhigenden Licht werden. Ich schreibe, damit ich die kältesten Herzen berühren kann. Ich schreibe, damit ich mit denen sprechen kann, die ausgeschlossen sind von der Welt, die in der blendenden Abwesenheit des Sehens versunken sind. Ich schreibe, damit ich ausdrücken kann, was ich für richtig halte.“ In seinem Dankesbrief beteuerte er zudem, dass das Resozialisierungsprogramm „einen besonderen Platz“ in seinem Herzen habe.

Anfang dieses Jahres nahm Khan, damals noch von Polizei begleitet, an einer Veranstaltung im Londoner Regierungsviertel Whitehall teil. Er schien eifrig und bereit zu sein, sich an den Programmen der Regierung zu beteiligen, mit denen Extremisten entradikalisiert werden sollten. Als Musterschüler des Resozialisierungsprogramms wurde er schließlich zu dem Seminar in der Fishmongers‘ Hall neben der London Bridge geladen. Für die Anreise erhielt Khan eine Sondererlaubnis. Denn die Auflagen seiner vorzeitigen Freilassung bedeuteten, dass er sich mit Fußfessel eigentlich von seinem Wohnort in Stafford nicht allzu weit entfernen durfte. Anders als zu Beginn des Jahres fand der Ausflug in die britische Hauptstadt am vergangenen Freitag ohne Polizeieskorte statt - und endete für zwei Menschen mit dem Tod, bevor der Terrorist selbst im Alter von 28 Jahren auf der London Bridge durch Schüsse der Polizei sein Ende fand.

„Der Typ, der mit Bild von Osama bin Laden durch die Schule ging“
Rhys Miller, ein ehemaliger Klassenkamerad, schrieb nach Bekanntwerden der Identität des Attentäters auf Facebook: „Schau mal, wer es ist - der Typ, der mit einem Bild von Osama bin Laden (von US-Spezialkräften getöteter früherer Al-Kaida-Chef; Anm.) auf der Vorderseite seiner Mappe durch die Schule ging und mit 20 seiner Kumpels in der Ecke des Cafés saß, um sich Videos von den Flugzeugen anzusehen, die in die Twin Towers fliegen (die Anschläge vom 11. September 2001 in New York; Anm.)“. Der frühere Mitschüler ist überzeugt, dass Khans Extremismus „unter den Teppich gekehrt“ und „krasse rote Fahnen“ ignoriert worden seien.

Vielleicht war es angesichts der turbulenten Vorgeschichte Khans auch einfach nur zu verlockend, in Zeiten des Terrors an die vermeintliche Rehabilitierung des Radikalisierten zu glauben und ihm gar einen Studienplatz an der Cambridge Universität ermöglichen zu wollen. Einem jungen Mann, dessen Elternhaus zum ersten Mal von der Polizei gestürmt wurde, als er gerade Mal 17 Jahre alt war und damit begonnen hatte, „verstörendes Material“ an seiner Schule zu verteilen. Einem jungen Mann, der auf einer Konferenz darüber sprach, warum in Großbritannien die Scharia-Gesetze gelten sollten. Einem jungen Mann, der vom britischen Geheimdienst dabei abgehört wurde, wie er von Waffenkäufen, vom Rohrbomben-Bauen und über Anschlagspläne auf Pubs und Clubs spricht. Einem jungen Mann, der Nicht-Muslime „Hunde“ nannte und davon träumte, auf einem Grundstück seiner Eltern im pakistanischen Teil Kaschmirs ein Trainingscamp für Dschihadisten zu errichten.

Einem jungen Mann, der schließlich festgenommen wurde, weil er einen Anschlag auf die Londoner Börse plante, dessen Pläne vom Gericht als „ernsthaftes, langfristiges Projekt“ bezeichnet wurden, und vor dem bei der Verurteilung gewarnt wurde, er könne ein „dauerhaftes Risiko für die Öffentlichkeit“ darstellen. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt …

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