"Evet" oder "Hayir"

Referendum in der Türkei: Alle Macht für Erdogan?

Ausland
15.04.2017 16:50

Mehr als 55 Millionen Türken sind am Sonntag berechtigt, bei dem von Machthaber Recep Tayyip Erdogan initiierten Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems abzustimmen. Weitere 2,9 Millionen sind außerhalb der Türkei wahlberechtigt, unter ihnen rund 109.000 in Österreich. Die Türkei steht vor einer historischen Entscheidung - und womöglich vor einer großen Krise, denn während Befürworter die Reform als alternativlos für die Stabilität des Landes erachten, warnen die Gegner vor einer Ein-Mann-Herrschaft Erdogans. Hier finden Sie alle Fakten zur Ausgangslage sowie die wichtigsten Fragen und Antworten zum Wahltag.

Das Präsidialsystem würde dem Präsidenten deutlich mehr Macht verleihen. Erdogan und die Regierungspartei AKP versuchen, Wähler mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche zu einem Ja ("Evet") zu bewegen. Dies, so wird suggeriert, sei das Votum der Patrioten, die eine stabile und prosperierende Türkei wollten. Menschen, die Nein ("Hayir") sagen, werden in die Nähe von Terroristen gerückt.

Die Verfassungsreform, die 2019 in Kraft treten soll, wird außerdem als ein Mehr an Demokratie verkauft, wozu nach Einschätzung von Fachleuten einige Fantasie gehört. Aus Sicht von Experten könnten die Änderungen die Grundlage für ein autoritäres Regime bilden. Die AKP in Österreich ist der Ansicht, dass es im Fall eines Scheiterns des Referendums sogar zu einem Bürgerkrieg in der Türkei kommen könnte.

Das würde das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem mit sich bringen:

  • Präsident wird Regierungschef: Der Präsident, der bisher laut Verfassung eine vorwiegend repräsentative Funktion hat, soll zum Chef der Exekutive werden. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Künftig würde der Präsident selbst das Kabinett leiten und die Minister auswählen, ohne dabei der Zustimmung des Parlaments zu bedürfen.
  • Parlament verliert Befugnisse: Das Parlament soll das Recht verlieren, Minister ihres Amtes zu entheben. Stattdessen kann es sie künftig nur noch schriftlich befragen - nicht aber den Präsidenten. Im Fall von kriminellen Verfehlungen könnte es den Präsidenten absetzen, doch wären die Hürden für ein Amtsenthebungsverfahren sehr hoch. Die Zahl der Abgeordneten soll von 550 auf 600 erhöht werden. Die höchst umstrittene Zehnprozenthürde, die insbesondere prokurdische Parteien benachteiligt, bleibt.
  • Präsidentenamt wird politisiert: Der Präsident, der bisher zu politischer Neutralität verpflichtet ist, dürfte künftig seine Parteizugehörigkeit behalten. Kritiker befürchten, dass dies dazu führen würde, dass der Präsident zugleich Vorsitzender der größten Partei ist - und damit als Mehrheitsführer das Parlament kontrolliert.
  • Mehrere Amtszeiten: Der Präsident darf der Verfassungsreform zufolge nur für zwei je fünfjährige Amtszeiten gewählt werden. Diese Zählung würde nach Inkrafttreten der Reform 2019 neu beginnen, sodass Erdogan noch zweimal antreten könnte. Gibt es in der zweiten Amtszeit vorgezogene Neuwahlen, darf der Präsident ein drittes Mal kandidieren. Außerdem sollen die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen künftig gleichzeitig stattfinden - um sicherzustellen, dass der Präsident derselben Partei angehört, die im Parlament die Mehrheit hat. Kritiker sehen in diesem Fall aber eine effektive Kontrolle der Regierung nicht mehr gewährleistet.
  • Weniger Unabhängigkeit für die Justiz: Der Präsident soll mehr Kontrolle über die Justiz erhalten. Er würde künftig sechs der 13 Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte ernennen, der über die Besetzung wichtiger Justizämter entscheidet. Die anderen Mitglieder wählt demnach das Parlament aus - wo der Präsident aber Mehrheitsführer ist.

Furcht vor zu viel Macht in der Hand eines Einzelnen
Selbst treue AKP-Wähler sagen in privaten Gesprächen, dass ihnen die Reform nicht geheuer sei und sie mit Nein stimmen würden. Manche wollen nicht so viel Macht in der Hand eines einzelnen Mannes konzentriert sehen. Andere hätten nichts dagegen, solange dieser Mann Erdogan heißt. Da die beiden größeren Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die prokurdische HDP - strikt gegen das Präsidialsystem sind, braucht Erdogan Stimmen aus dem Lager der ultranationalistischen MHP. Um sie buhlt er mit seiner nationalistischen und antieuropäischen Rhetorik.

Viele offene Fragen bei einem Sieg des Ja-Lagers
Sollte sich Erdogan durchsetzen, würden nicht nur aus türkischer, sondern auch aus europäischer Sicht folgende Fragen besonders relevant: Waren Erdogans Aussagen zu einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe nur Wahlkampfgetöse, oder macht er sich tatsächlich an die Umsetzung? Bleibt er auf europafeindlichem Kurs, oder versucht er, das Porzellan zu kitten, das er mit seinen Nazi-Vergleichen zerbrochen hat?

Bei Nein würde Erdogan auf Neuwahlen hinarbeiten
Für den Fall eines Siegs des Nein-Lagers würde Erdogan seine Ambitionen wohl noch lange nicht begraben. Der Vorsitzende der Verfassungskommission im Parlament, Mustafa Sentop von der AKP, sagt, das Land benötige eine Änderung der Verfassung. Sollte sich das Nein-Lager durchsetzen, werde der Prozess trotzdem "nicht zu einem finalen Ende kommen". Denn dann wird erwartet, dass Erdogan - der 2014 für fünf Jahre gewählt wurde - den nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand verlängert und auf vorgezogene Parlamentswahlen hinarbeitet.

Auslandstürken könnten zum Zünglein an der Waage werden
Jedenfalls wird ein knapper Wahlausgang beim Referendum erwartet, bei dem die Auslandstürken zum Zünglein an der Waage werden könnten. Erdogan hatte die außerhalb der Türkei lebenden Landsleute aufgerufen, sich massenhaft zu beteiligen. Nach Ansicht von Beobachtern könnte das aber auch die Gegner zusätzlich motiviert haben, abstimmen zu gehen. Erdogan selbst nannte 60 Prozent Ja-Stimmen als sein Wunschziel.

Video: So denken Türken in Wien über Erdogan

Hier eine Reihe von weiteren wichtige Fragen und Antworten zum Referendum in der Türkei:

Wann sind die Wahllokale geöffnet?
Im Osten der Türkei öffnen die Wahllokale am Sonntag um 7 Uhr (Ortszeit/6 Uhr MESZ) und schließen um 16 Uhr. In anderen Landesteilen kann von 8 Uhr bis 17 Uhr abgestimmt werden.

Was steht auf den Stimmzetteln?
Auf den von türkischen Medien veröffentlichten Bildern von Muster-Stimmzetteln steht auf der linken Hälfte "Evet" (Ja) auf weißem Hintergrund und auf der rechten "Hayir" (Nein) auf braunem Hintergrund. Der Wähler entscheidet, indem er einen Stempel mit der Aufschrift "Tercih" (Auswahl) auf den bevorzugten Teil drückt. Dann steckt er den Stimmzettel in einen Umschlag, der in eine Urne kommt. Eine Frage ist auf dem Stimmzettel nicht vermerkt. Nach dem wochenlangen Wahlkampf dürften die Optionen aber bekannt sein.

Wie läuft die Auszählung ab?
Landesweit gibt es mehr als 167.000 Wahlurnen. Pro Urne bestimmt die Wahlkommission des jeweiligen Bezirks einen Vorsitzenden. Die fünf stärksten Parteien in der Region dürfen jeweils einen Vertreter entsenden, der die Abstimmung und die Auszählung beobachtet. Diese Beobachter müssen das Ergebnis aus der jeweiligen Urne unterzeichnen, bevor die Stimmzettel und das Wahlergebnis zur Wahlkommission des Bezirks gebracht werden, wo sie in ein Computersystem eingegeben und zur Wahlkommission nach Ankara übermittelt werden.

Gibt es auch internationale Wahlbeobachter?
Ja, aber nicht viele. Die t dem 25. März 24 internationale Langzeitbeobachter der OSZE im Land im Einsatz.

Was passiert mit den Stimmen aus dem Ausland?
Die versiegelten Wahlurnen werden mit einem eigenen Flugzeug unter Aufsicht nach Ankara gebracht und dort der Wahlkommission übergeben. Am Wahltag werden die Stimmen nach Schließung der Wahllokale ebenfalls unter Beobachtung von Regierungs- und Oppositionsparteien ausgezählt. In Österreich durfte bis 9. April abgestimmt werden. Laut Wahlkommission in Ankara gaben 50,6 Prozent der 108.561 Stimmberechtigten ihre Stimme ab. Weltweit nahmen 1.323.640 Auslandstürken an dem Referendum teil - rund 47 Prozent der 2.972.676 Stimmberechtigten.

Wann ist mit den ersten Ergebnissen zu rechnen?
Am Abend des Referendums. Unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale beginnt die Auszählung. Die Wahlbehörde entscheidet, wann Medien erste Ergebnisse veröffentlichen dürfen. Normalerweise ist dies wenige Stunden nach Wahlende der Fall. Prognosen oder Hochrechnungen gibt es nicht, dafür aber Teilergebnisse, die fortlaufend aktualisiert werden. Wann der Ausgang des Referendums feststeht, hängt vor allem davon ab, wie knapp das Resultat ausfällt. Vermutlich dürfte aber am späteren Abend oder spätestens in der Nacht deutlich werden, welche Seite den Sieg für sich verbuchen kann.

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