Die Großglockner Hochalpenstraße wird winterfest gemacht, und tief in ihren Bauen haben sich die Murmeltiere bereits zum Schlafen zurückgezogen. Zeit für ein Saisonfazit: Die „Krone“-Kampagne „Ich bremse auch für Murmeltiere“ hat heuer viel bewegt. Wildtier-Experte Prof. Norbert Winding erklärt im Gespräch, warum gut gemeinte Tierliebe den putzigen Alpenbewohnern oft mehr schadet als nützt – und was er sich für ihre Zukunft wünscht.
„Krone“: Herr Prof. Winding, seit mehr als 50 Jahren erforschen Sie unter anderem auch Murmeltierpopulationen im Hochgebirge. Welche Besonderheiten weisen die Tiere an der Großglockner Hochalpenstraße auf?
Professor Norbert Winding: Die Tiere an der Hochalpenstraße haben sich über Generationen hinweg an die Menschen gewöhnt. Sie haben gelernt, dass von Touristen an den Parkplätzen keine Gefahr ausgeht, weil sie dort nicht gejagt werden. Nur zwei Kurven weiter verhalten sich ihre Artgenossen völlig anders – sie pfeifen warnend und flüchten sofort. Diese Anpassungsfähigkeit zeigt, wie intelligent diese Tiere sind. Sie unterscheiden genau zwischen harmlosen Besuchern und echten Gefahren wie Füchsen oder Adlern.
Sie sind in Bruck an der Glocknerstraße aufgewachsen. Wie hat sich Ihre Beziehung zu diesen Tieren über die Jahre entwickelt?
Ich kenne die Region seit meiner Kindheit und habe nach dem Studium lange das Nationalparkinstitut geleitet. In dieser Zeit haben wir nicht nur Murmeltiere erforscht, sondern auch Schneehasen und andere alpine Tierarten. Man entwickelt über die Jahrzehnte ein Gespür für die Tiere und ihre Lebensweise. Jede Population hat ihre eigenen Dynamiken, ihre Familienstrukturen. Das macht die Langzeitbeobachtung so faszinierend.
Die „Krone“-Kampagne „Ich bremse auch für Murmeltiere“ hat heuer viel Aufmerksamkeit erregt. Wie bewerten Sie die Initiative?
Solche Kampagnen sind enorm wichtig, denn der Straßenverkehr bleibt die größte Gefahr für die Murmeltiere. Auch heuer wurden wieder sechs Tiere überfahren, besonders in neuralgischen Abschnitten zwischen dem Glocknerhaus und der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe. Bewusstseinsbildung ist der erste Schritt zu mehr Rücksicht. Es freut mich auch, dass die Großglockner Hochalpenstraßen AG zusätzliche Warntafeln aufgestellt hat.
Warum sind gerade diese Straßenabschnitte so gefährlich?
Die Murmeltiere leben in Familiengruppen und haben feste Territorien. Wenn ihre Baue auf beiden Seiten der Straße liegen oder ihre Futtergebiete durch die Straße getrennt sind, müssen sie diese überqueren. Bei erhöhtem Verkehrsaufkommen, etwa bei speziellen Veranstaltungen, steigt das Risiko dramatisch. Hinzu kommt der Lärm, der für die Tiere im sonst so ruhigen Nationalpark eine erhebliche Belastung darstellt.
Viele Besucher füttern die Murmeltiere. Was halten Sie davon?
Am tiergerechtesten ist es, nicht zu füttern. Das kann ich nicht oft genug betonen. Die Murmeltiere finden in den alpinen Wiesen alles, was sie zum Überleben brauchen. Menschliche Nahrung wie Wurstsemmeln oder Süßigkeiten schadet ihnen mehr, als sie nützt. Die Tiere sind perfekt an ihren Lebensraum angepasst.
Warum ist menschliche Nahrung für sie schädlich?
Murmeltiere haben ein sehr spezielles Verdauungssystem, das auf alpine Pflanzen ausgerichtet ist. Fette und Zucker aus verarbeiteten Lebensmitteln können zu schweren Erkrankungen führen. Außerdem gewöhnen sich die Tiere dadurch noch stärker an Menschen und verlieren ihre natürliche Vorsicht. Das macht sie anfälliger für Gefahren. Wer den Tieren wirklich helfen will, sollte sie einfach nur aus respektvoller Distanz beobachten.
Wie überleben Murmeltiere eigentlich den harten Winter im Hochgebirge?
Das ist ein faszinierendes biologisches Wunderwerk. Sie ziehen sich in ihre Baue zurück und verfallen in eine Kältestarre. Ihre Körpertemperatur sinkt auf wenige Grad Celsius ab, ihr Herzschlag verlangsamt sich auf wenige Schläge pro Minute. Die monatelange Ruhephase überleben sie ausschließlich von ihren Fettreserven, die ihr Körpergewicht um bis zu einem Drittel erhöhen können. Die Baue liegen oft ein bis zwei Meter unter der Erde, wo die Temperaturen stabil bleiben.
Die größte Form der Tierliebe ist oft, Wildtiere wild sein zu lassen.

Prof. Dr. Norbert Winding, Wildtierexperte
Bild: Tröster Andreas
Warum fühlen sich Murmeltiere in diesen Höhenlagen so wohl?
Ihre Vorfahren lebten bereits während der Eiszeit in den kalten Tundrenlandschaften Mitteleuropas. Als sich die Gletscher zurückzogen und die Wälder wuchsen, verlagerte sich ihr Lebensraum immer weiter nach oben in die kühlen Bergregionen. Mit ihrem dichten Fell und nur wenigen Schweißdrüsen wäre es ihnen in tieferen Lagen schlicht zu warm. An heißen Sommertagen ziehen sie sich deshalb zur Mittagszeit in ihre Baue zurück. Sie sind echte Kaltsteppentiere geblieben.
Sie haben 2003 ein Buch über Murmeltiere veröffentlicht. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit mit der Großglockner Hochalpenstraßen AG?
Wissenschaft und Tourismus arbeiten an der Glocknerstraße seit vielen Jahrzehnten eng zusammen. Anfang der Neunziger Jahre wurde an der Straße die Hochalpine Forschungsstation und die Alpine Naturschau errichtet – das war auch der Anlass zur Publikation des Murmeltierbuches. Entlang der Straße haben wir in Zusammenarbeit mit dem Haus der Natur in vielen Bereichen Info-Einrichtungen über die alpine Natur geschaffen. Es ist eine inspirierende Synergie: Die Straße ermöglicht den Zugang zur Forschung, und die Forschung hilft, die Besucher für die Natur zu sensibilisieren.
Wie wichtig ist diese wissenschaftliche Begleitung für den Schutz der Tiere?
Sehr wichtig. Die Großglockner Hochalpenstraßen AG unterstützt mit dem Glockner-Öko-Forschungsfonds jährlich Forschungsprojekte. Es werden laufend wichtige Untersuchungen über die Natur und den menschlichen Einfluss im Hochgebirge durchgeführt – entlang und in der Umgebung der Straße. Nur wenn wir die Zusammenhänge verstehen, können wir auch gezielt schützen und informieren.
Was hat sich im Hochgebirge Ihrer Meinung nach am stärksten verändert?
Der massive Rückgang der Gletscher ist die gravierendste Veränderung. Ich kenne die Pasterze seit meiner Kindheit, und die Veränderungen dort sind enorm. Für jeden, der die Region länger kennt, ist das unübersehbar und ein deutliches Zeichen des Klimawandels. Der Lebensraum der Murmeltiere selbst hat sich dank des Schutzes durch den Nationalpark Hohe Tauern aber kaum verändert. Die menschliche Nutzung ist dort stabil geblieben.
Hat der Klimawandel also keinen direkten Einfluss auf die Murmeltiere?
Bisher noch nicht in dem Maße wie auf andere alpine Arten. Die Murmeltiere sind sehr anpassungsfähig. Problematischer ist tatsächlich der direkte menschliche Einfluss – der Verkehr, der Lärm, das Füttern. Das sind die unmittelbaren Gefahren, gegen die wir etwas tun können.
Was ist Ihr Anliegen für die nächste Saison und den Schutz der Tiere entlang der Großglockner Hochalpenstraße?
Ich würde mir wünschen, dass die Besucher die Tiere beobachten und ihren Raum respektieren. Die größte Form der Tierliebe ist oft, Wildtiere wild sein zu lassen. Das bedeutet: rücksichtsvoll fahren, nicht füttern und die erstaunliche Anpassungsfähigkeit dieser Bewohner aus respektvoller Distanz zu bewundern. Die Murmeltiere sind tagaktiv, leben in Familiengruppen und zeigen ein komplexes Sozialverhalten – allein das macht sie zu faszinierenden Beobachtungsobjekten. Man muss sie nicht füttern, um sie zu erleben. Sie sind ohnehin da, in ihrem natürlichen Umfeld, und genau das ist das Schönste daran.
Prof. Dr. Norbert Winding, geboren 1957 in Zell am See, ist Biologe und langjähriger Leiter des Hauses der Natur in Salzburg (2009-2022). Der Alpen- und Wildtierexperte forscht seit Jahrzehnten im Hochgebirge, besonders zu Murmeltieren und deren Lebensräumen im Nationalpark Hohe Tauern. Winding engagiert sich für Naturschutz, Umweltbildung und das Verständnis für das sensible Zusammenspiel von Mensch und Wildtier.
Willkommen in unserer Community! Eingehende Beiträge werden geprüft und anschließend veröffentlicht. Bitte achten Sie auf Einhaltung unserer Netiquette und AGB. Für ausführliche Diskussionen steht Ihnen ebenso das krone.at-Forum zur Verfügung. Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.
User-Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Betreibers/der Redaktion bzw. von Krone Multimedia (KMM) wieder. In diesem Sinne distanziert sich die Redaktion/der Betreiber von den Inhalten in diesem Diskussionsforum. KMM behält sich insbesondere vor, gegen geltendes Recht verstoßende, den guten Sitten oder der Netiquette widersprechende bzw. dem Ansehen von KMM zuwiderlaufende Beiträge zu löschen, diesbezüglichen Schadenersatz gegenüber dem betreffenden User geltend zu machen, die Nutzer-Daten zu Zwecken der Rechtsverfolgung zu verwenden und strafrechtlich relevante Beiträge zur Anzeige zu bringen (siehe auch AGB). Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.