Das preisgekrönte aktionstheater ensemble zeigt mit „Ragazzi del‘ Mondo“, wie sich unsere Gesellschaft zersplittert und wer dabei auf der Strecke bleibt: wir. Eine rauschhafte Theaterperformance, die am Donnerstag bei der Vorarlberg-Premiere in Bregenz zu Recht bejubelt wurde.
Das aktionstheater ensemble rund um Regisseur Martin Gruber und Dramaturg Martin Ojster liefert seit über 35 Jahren Theater am Puls der Zeit, findet in seinen Produktionen mit gnadenloser Genauigkeit den Schmerzpunkt der Gesellschaft und drückt nochmal ordentlich drauf. Das tut weh. Aber nicht nur, es amüsiert auch, es berührt, es macht lebendig – keine Selbstverständlichkeit im Theaterbetrieb, auch im sogenannten heutigen. Und so verwundert es gar nicht, dass trotz hochsommerlicher Temperaturen und angelaufener Ferienzeit das Kosmos Theater in Bregenz brechend voll war, als Gruber am Donnerstag sein neues Stück „Ragazzi del’ Mondo. Nur eine Welt“ zeigte.
Das Setting auf der Bühne: Liegestuhl, Pizza, Bierdosen – Tutto Gas, geht scho! Entspannte Feierlaune mag aber nicht aufkommen. Immerhin gibt’s ja nur einen Liegestuhl. Für fünf Darsteller – klar, dass da schon mal das Rumgeschubse anfängt. Mit einigen Umdrehungszahlen höher steigt Figur Kirstin in das Geschehen ein: Sie erzählt voller Stolz von ihrem Amerikaaufenthalt – und der Hasenjagd, an der sie dort teilgenommen hat: „Sichten! Anleuchten! Abknallen!“ Hat doch schon damals 1945 im Mühlviertel funktioniert, als nicht nur SS-Leute, sondern auch die Zivilbevölkerung 500 halbverhungerte, sowjetische KZ-Gefangene durch die eiskalten Wälder gejagt und erschlagen haben – unter dem Codewort „Hasenjagd“. Yeah, make America great again!
Hört noch irgendwer zu?
Auseinanderdividieren ist überhaupt eines der zentralen Motive dieser Inszenierung: Mein Leid und dein Leid, dein Leid und das Leid eines Bombenopfers, deine Gruppe, meine Gruppe, dein Nazi, mein Nazi, richtig und falsch. Auch in den choreographischen Einlagen wird das spürbar, denn die Gruppe agiert hier nur noch zersplittert. Gemeinsamkeit ist erstmal abgeschafft. Was dafür auflebt: „Ich, ich, ich!“ Figur Zeynep schreit es heraus und schaltet dann auf Türkisch um, was keiner ihrer Kollegen auf der Bühne versteht.
Macht aber nix, denn auch das, was auf Deutsch gesprochen wird, kommt beim Gegenüber kaum an. Zu aufgeblasen die Egos, zu tief sitzt das „Bauchgefühl“, zuerst mal auf sich selbst zu schauen. Was dabei herauskommt, wenn der Dialog dermaßen kaltgestellt wird, das Urteilen vor allem über andere dafür umso leichter von der Hand geht: Verunsicherung, Einsamkeit, Zerfransung – getränkt von tiefer Verzweiflung.
Hochgradig nervös
Martin Gruber und seine Darsteller finden bestechende Bilder für den fiebrigen Zustand der Gesellschaft, in der Krieg wieder zur Notwendigkeit, Aufrüstung wieder salonfähig zu werden scheint. Hochgradig nervös, emotional extrem aufgeladen und schon mal in Tarngrün gekleidet, agiert das rastlose Hochleistungs-Ensemble vor Videowalls, auf denen Soldaten aufmarschieren, dann sind wieder Strandbilder zu erkennen. Eimerweise schütten die Darsteller Sand auf die Bühne. Bei den Choreographien hört man es auch: Es knirscht gewaltig unter den Sohlen.
Ein Zugehen aufeinander scheint kaum mehr möglich, zu hart am Wind des eigenen Rechtbehaltens segeln die Individuen, die dabei durchaus ins Straucheln kommen. Kirstin erzählt, wie sie bei Lidl über einen Leichensack gestolpert ist und dann trotzdem dort ihren Salat gekauft hat. Die perfekte Vorlage für ihre Kollegen, sich im Spiel „Ich bin o.k., Du bist nicht o.k.“ zu üben. Und der fröhlich-bunte Sonnenschirm, der auf den Bühnenboden projiziert wird, verwandelt sich langsam aber sicher in eine Zielscheibe: Wer ist der nächste?
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