Im November in Wien

Tocotronic-Sänger reflektiert die Corona-Zeit

Wien
03.09.2023 09:00

Quasi mit Einbruch der Pandemie im März 2020 feierte Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow seinen 49. Geburtstag. Was das erste Corona-Jahr mit ihm und seinem Umfeld machte und wie es innere Dämonen von früher weckte, das schrieb er in „Ich tauche auf“ wortstark nieder. Am 12. November spielt er mit seiner Band im Wiener Konzerthaus.

Exakt 30 Jahre ist es her, als Dirk von Lowtzow gemeinsam mit Jan Müller und Arne Zank Tocotronic gründete und mit einem nicht geahnten Erfolg den heute landläufigen Pop-Kosmos „Hamburger Schule“ salonfähig machte. Gut, Blumfeld und die Sterne waren früher dran und haben den Begriff in erster Linie geprägt, für die 90er-Stundentenfraktion der Adidas-Jacken- und Grunge-Pulli-tragenden Teenager und Jungerwachsenen wurden aber die Texte von Tocotronic zur persönlichen Indie-Bibel. Frontmann von Lowtzow ist mittlerweile 52 Jahre alt und längst nicht nur Musiker, sondern auch Kunstkritiker, Opernarrangeur und Schriftsteller. In seinem 2019 erschienenen Debütroman „Aus dem Dachsbau“ erzählte er autobiografisch aus seiner Kinder- und Jugendzeit. Für das diesen Frühling erschienene „Ich tauche auf“ hat er sein ganz persönliches Corona-Tagebuch offengelegt.

Ein Jahr Pandemie in der Kulturwelt
Ein Jahr lang nimmt uns der Kulturconnaisseur und -treibende in seine ganz persönliche Welt mit, die sich trotz der erzwungenen Gleichschaltung durch die verordneten Lockdowns trotzdem immer sehr anders anfühlt, als man die Zeit selbst erlebt hat. Das liegt natürlich auch daran, dass schon allein die Grundparameter des Alltags anders angelegt sind, als beim Ottonormalverbraucher. Während sich Arbeiter und Angestellte zwischen erzwungener Freiheit und ungewohntem Home Office bewegten, nützt der Kunstschaffende den plötzlichen Stillstand zur Mußestunde und lässt sich von seinen Ideen leiten. Von Lowtzow startet am 21. März, seinem damals 49. Geburtstag, und arbeitet sich chronologisch durch alle Gedankenströme, Unsicherheiten und Freuden, die sich in diesem Jahr so ergaben.

Der gebürtige Baden-Württemberger, der zur Hamburger Ikone wurde und seit einer gefühlten Ewigkeit in Berlin residiert, nimmt Fans und Interessierte mit auf eine Reise, die sich zwischen Psyche und Realität befindet. Man begleitet einen ewig Zweifelnden auf seiner schier unmöglichen Mission, mit inneren Dämonen und wiederkehrenden Albträumen zurechtzukommen. Er gibt Einblicke in sein gar nicht immer festes Privatleben und findet während des ersten Corona-Jahres stets kreative und friedliche Zuflucht im ruralen Buckow, das ihm bei langen Spaziergängen und Naturbeobachtungen zum inneren Gleichgewicht verhilft, um in der Metropole Berlin wieder klar denken zu können. In diesem „unfreiwilligen Jahr der Ruhe“ ist bei von Lowtzow vor allem mental der Teufel los.

Kleine Alltagsbeobachtungen
Unter widrigsten Umständen und mit der damals üblichen und notwendigen Distanz schraubte die Band mit viel räumlichen Abstand an ihrem aktuellen Studioalbum „Nie wieder Krieg“. Die Selbstzweifel und Unsicherheiten der fragilen Künstlerseele werden durch die globale Atempause potenziert. Immer wieder mäandert der Protagonist zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Seine Erinnerungsstränge exerziert er mit bildhaften Erinnerungen, Gedichten, Songtexten und Prosa. Von Lowtzow lässt sich von menschenleeren und distanzierten Ausstellungen inspirieren, findet sich peinlich, wenn er die Maske für den täglichen Einkauf vergisst und beschreibt mit feinfühliger Ironie, wie sich sein angeborener Putzfimmel während der Pandemie zu einer nahezu besorgniserregenden Sucht erhöht.

Die Erzählung eines Jahres „des äußeren Stillstands und des inneren Aufruhrs“ verfängt sich gerne in Wiederholungen und Ähnlichkeiten. Zwischen nicht enden wollenden Rückenschmerzen, kurzen Park-Spaziertreffen mit anderen in Berlin lebenden Kulturprominenten und den detaillierten Beschreibungen der temporären Fadesse in seiner Wohnung, zieht die Geschichte unweigerliche Wiederholungsschleifen, die sich während der Pandemie in so gut wie jeder Existenz manifestierten. Sprachlich gelingt es dem Musiker zumeist, Kurzweil auszustrahlen und Trivialität zu umschiffen, die sorgsam eingebrachte Ironie gerät zuweilen etwas spießig und platt. Ein erfolgreicher Künstler ist eben nicht auch gleichzeitig ausgewiesener Humorist. Ernster wird es, wenn er die Zukunft der Gitarrenmusik anzweifelt und trotz weltoffener Einstellung nicht verhindern kann, zuweilen in eine „wie soll es denn künftig eigentlich weitergehen“-Boomer-Zweifelhaltung fällt, die mehr nach Resignation als persönlicher Progression ruft.

Coronale Rückschau
Die Dunkelheit und fehlende Sorglosigkeit sind der prekären Situation geschuldet. Dreieinhalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie haben wir viele der Unsicherheiten längst verdrängt, doch von Lowtzow vergegenwärtigt uns diese ad acta gelegte Zeit mit gespenstisch entlarvenden Bestandsaufnahmen. Dass es sich bei ihm um einen gut situierten und relativ sorglosen Fall von „Corona-Bürger“ handelt, lässt sich natürlich nicht verleugnen. Angesichts der existenziellen Probleme vieler Menschen erinnert seine intrinsische Seelenschau an Luxus, doch Sorgen, Probleme und Nöte sollte man niemals auf eine Waagschale legen, sondern jeweils für sich ernst nehmen und zu lösen versuchen. „Ich tauche auf“ führt uns das Grauen des ersten Virus-Jahres aus Indie-deutscher Kunstperspektive vor Augen. Auch wenn nicht alles ideal gelungen ist, unterhaltsam und selbstentlarvend ist diese coronale Rückschau des Tocotronic-Kopfs allemal.

Tocotronic live in Wien
Auf Lesetour war Dirk von Lowtzow schon im Frühling, doch am 12. November ist er mit seiner Band Tocotronic im Wiener Konzerthaus zu sehen. Das Konzert im ganz besonderen Rahmen ist bereits ausverkauft und das einzige der Band in Österreich in diesem Jahr.

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