Live in der Stadthalle

The 1975: Der Bühnenjesus der Rock-Millennials

Wien
06.06.2023 09:20

Vor rund 7000 Fans spielten die britischen Pop-Rocker The 1975 in der Wiener Stadthalle ihre bislang mit Abstand größte Wien-Show. Dass die Beziehung von Frontmann Matt Healy mit Taylor Swift nur wenige Stunden davor endete, änderte nichts an der großartigen Live-Performance. Ein Abend mit vielen Gefühlen und einem Messias-Komplex.

Zwischen Gossip und Kultur ist der Grat oft nicht sonderlich schmal und nur wenige Künstler vermögen es, geschickt auf beiden Seiten der Linie zu tanzen. The 1975-Frontmann Matt Healy etwa ist so ein seltenes Beispiel, das aufgrund seines Boyband-Äußeren und dem ihm innewohnenden Drang, zu allem und jedem eine öffentliche Meinung zu haben, den einen Bereich erfüllt. Auf der anderen Seite gilt er als eine der wenigen Zukunftshoffnungen für den Rock’n’Roll, der jetzt vielleicht nicht schon im Hospiz nächtigt, aber zumindest an dortigen Türen klopft. Dass er seine Band als „Saviours Of Rock’n’Roll“ vorstellt, zeugt von Selbstvertrauen. Wenige Stunden vor dem ersten Auftritt der Band in der Wiener Stadthalle ging Montagabend im Netz die Botschaft viral, dass sich Superstar Taylor Swift von Healy getrennt hätte. Knapp zwei Monate hätte die Beziehung gehalten, vor gut zehn Jahren gab es schon einmal ein temporäres Techtelmechtel.

Der nächste Schritt
Doch was man bei Healy noch wissen muss: der Gossip überlagert nicht die Kunst. Das letzten Herbst veröffentlichte fünfte Studioalbum „Being Funny In A Foreign Language“ war auch die fünfte Nummer eins in England. Immer stärker nehmen auch andere Ecken dieser Welt Notiz von den britischen Pop-Liebhabern mit einem Touch für das Exzentrische. In Australien und Japan sind die Besucherzahlen schon im ordentlichen fünfstelligen Bereich zu verorten, in der britischen Heimat führt man längst die großen Festivals an. In Wien war die Stadthalle der nächste Schritt nach Flex, Gasometer, Arena Open Air und Metastadt. Die 7000 Fans sind schon beim Eröffnungsdoppel „Give Yourself A Try“ und „Happiness“ in Betriebsform. Die fast ausschließlich weiblich besetzten zwei, drei vorderen Reihen agieren zwischen ehrfürchtigem Schmachten und verliebtem Starrblick.

Healy ist der ungekrönte König der Ambivalenz und Doppelbödigkeit. Seine Live-Performances bestehen aus übertriebener Publikumsnähe, Seelenstriptease und Rockstar-Gehabe. Was davon Schauspiel und was real ist, darüber scheiden sich die Geister. Dass er seine Fans in den vordersten Reihen gerne einmal mit Kussattacken überrascht, hat er - wohl Swift zuliebe - zuletzt abgelegt, doch sein Bühnenschauspiel ist von höchster Güte. Ob mit Piraten-Augenklappe und Flachmann, Tschick und Rotweinflasche oder im Arztkittel mit Untersuchungslupe - es fühlt sich etwas sinnlos und willkürlich an, doch durch das überbordende Charisma des 34-Jährigen nimmt man die Exzentrik als Natürlichkeit da. Wie seine ihn wenig respektierenden Stadtkollegen aus Manchester, Oasis, eckt Healy gerne an, doch wo sich die Gallaghers in wilden Schimpftiraden und Prügeleien suhlen, bleibt Healy zumeist vorsichtig und familiengerecht.

Bescheidene Kollegen
Die zwischen verschiedenen Festivals eingequetschte Wien-Show mäandert zwischen den Zeiten und Stilen. Songs vom Debütalbum werden mit neueren Tracks vermengt, sanfte Balladen von Autotune-Versatzstücken unterbrochen, austreibende Rock-Momente mit der Leichtfüßigkeit nostalgischen Pops gleichgesetzt. Die eigene Hit-Palette umfasst u.a. „Be My Mistake“, „Medicine“ oder das feurige „She’s American“, dazwischen spielt er Oasis‘ „Wonderwall“ und den Backstreet Boys-Klassiker „I Want It That Way“ an. Ein Song, der aus Tausenden Kehlen inbrünstig mitgesungen wird, obwohl viele der Anwesenden zu seinem Entstehen noch in Abrahams Wurstkessel schwammen. Healy nimmt mit Stimme, Gitarre und seiner puren Präsenz so viel Raum ein, dass es bescheidener Mitmusiker bedarf, um das Kartenhaus nicht zusammenbrechen zu lassen. Gitarrist Adam Hann und Bassist Ross MacDonald halten sich still im Hintergrund, Drummer und Co-Songwriter George Daniel traut sich als einziger mit Doublebass-Salven in Healys launige Ansprachen zu grätschen.

Besonders gut schmeckt den Songs der markante Einsatz von John Waughs Saxofon. Immer wieder werden somit aus dem ohnehin schon 80er-lastigen Gesamtprojekt Huey Lewis-Gedenkstücke. The 1975 machen Musik für die Millennials und die scheren sich einen Dreck um Genres oder Herstellungsdaten. Wenn es ballert, ballert’s und dann ist der Rest egal. The 1975 ziehen aus dieser erkämpften Freiheit und Offenheit das meiste für sich heraus und folgen dem Erfolgsprinzip. Nur durch die völlige Unterwerfung der respektierten Bandmitglieder, die sich gerne bescheiden gerieren, aber musikalisch schwer überzeugen, kann diese Band in der Form existieren. Alle Mitstreiter gewähren dem Narziss an der Front breiten Raum für sein Method Acting, das ihn gegen Ende der Show zu einem weiblichen Fan führt, der die Band offenbar seit den Frühzeiten quer über den Globus verfolgt. Als Dank für das Jetsetting der Asiatin gibt’s von Healy Lupe, Weinflasche, Flachmann und ein paar unvergessliche Worte. So geht Bühnenjesus 2023: einfühlsam und frei von Chauvinismus.

Wunden lecken später
Während andere bekannte Bands die Öffentlichkeit gerade mit ihrer „Row Zero“ schockieren, stehen The 1975 für ein anderes Selbstverständnis, das auf gegenseitiger Liebe und Respekt fußt. Bei „Somebody Else“ lässt Healy die ganze Halle singen, das rhythmisch sehr markante „I Always Wanna Die (Sometimes)“ ist ungemein intensiv und gerät auch dem Interpreten an die Nieren. Knapp zwei Stunden lang wechselt sich das Set mit Akustikgitarren und wuchtigen Polter-Drums ab, oder fängt sich zwischen eruptiven Crescendi und sanften Momenten. Healy referiert davon, immer das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen, ist trotz privater Schieflage zu Scherzen aufgelegt und lässt die Setlist völlig unvorhersehbar, was heutzutage kaum noch vorkommt. Noch besser das Ende. „102“ spielt er ganz alleine mit Akustikgitarre, bringt die Masse mit einer schlichten Handbewegung zum Schweigen und zieht wortlos von Dannen - bis die Bühnenarbeiter langsam mit dem Abbau beginnen. Wunden lecken kann Healy backstage. Auf der Bühne regierte professionelle Feststimmung.

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